Sie kamen am frühen Morgen und hatten nur ein Ziel: möglichst viele Juden zu töten. Mehr als 1200 Israelis ermordeten die Terroristen der Hamas am 7. Oktober im Süden Israels. Unter den Toten waren – man muss es so klar benennen, um das Ausmaß des Grauens zu erfassen – Babys, Kinder, Jugendliche, Frauen, Eltern, Behinderte, Greise und Holocaust-Überlebende.
Es ist der dunkelste Moment in der Geschichte Israels und der dunkelste Tag in der Geschichte des jüdischen Volkes nach 1945. An keinem anderen Tag nach der Schoa wurden mehr Juden ermordet als am Schabbat des 7. Oktober 2023. Seitdem befindet sich die jüdische Gemeinschaft weltweit im Schockzustand. Das Entsetzen, die Fassungslosigkeit und die Trauer sind auch mehr als fünf Wochen nach diesem Massaker grenzenlos.
Nicht nur in Israel, auch in Deutschland ist die jüdische Gemeinschaft in höchstem Maße gefährdet.
Viele von uns gehen in diesen Tagen mit Meldungen wie dem versuchten Pogrom in Dagestan ins Bett und wachen mit der Nachricht auf, dass die in den Gazastreifen verschleppte 22-jährige Deutsch-Israelin Shani Louk von ihren Peinigern ermordet wurde.
Doch nicht nur in Israel, auch in Deutschland ist die jüdische Gemeinschaft in höchstem Maße gefährdet. Die Bedrohung war wohl noch nie so akut wie jetzt. Seitdem Israel sich gegen den Terror wehrt, erlebt die Bundesrepublik eine beispiellose Welle an judenfeindlichen Ausschreitungen.
Bei Kundgebungen in Berlin, Essen oder Frankfurt verurteilten die Demonstranten nicht etwa das Abschlachten unschuldiger israelischer Zivilisten, stattdessen wurden der Tod von Juden bejubelt, massenhaft antisemitische Slogans skandiert und ein judenreines Palästina »from the river to the sea« gefordert. Die Polizei ist guten Willens, doch angesichts der Masse aufgebrachter und oftmals auch gewaltbereiter, überwiegend arabisch- und türkischstämmiger Demonstranten heillos überfordert. Es ist ein Stück Kontrollverlust des Staates, um genau zu sein, die zeitweise Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols.
Arabische Jugendliche sagen im Gespräch mit Journalisten, dass sie sich Adolf Hitler zurückwünschen und rufen »Vergast die Juden«.
Hätte jemand es bis vor Kurzem für möglich gehalten, dass das Holocaust-Mahnmal in Berlin von Polizisten beschützt werden muss, damit es nicht von einem aufgebrachten »pro-palästinensischen« Mob gestürmt wird? Dass arabische Jugendliche im Gespräch mit Journalisten sagen, dass sie sich Adolf Hitler zurückwünschen und »Vergast die Juden« rufen? Dass Juden sich fragen, ob sie noch eine Zukunft im eigenen Land haben?
Die Angst ist groß unter den Juden in Deutschland – und sie ist tief verankert in den historischen Pogromerfahrungen. An zwei Wochenenden hintereinander hatte die Hamas im Oktober weltweit zu einem »Tag des Zorns« aufgerufen, was nichts anderes als ein Aufruf war, Juden zu ermorden. An einem der beiden Tage blieben meine Kinder – wie so viele andere jüdische Kinder auch – zu Hause und besuchten nicht ihre jüdische Kita. Bei allem Mut und aller Entschlossenheit, dass wir uns nicht von einem judenfeindlichen Mob tyrannisieren lassen wollen – an diesem Tag siegte die Angst.
Wer verstehen will, was es bedeutet, im Jahr 2023 in Deutschland Jude zu sein, fast auf den Tag 85 Jahre nach den Novemberpogromen, der muss nur die Nachrichten vom Wochenende zur Kenntnis nehmen: Ein libyscher Asylbewerber verübt einen Brandanschlag auf die Synagoge in Erfurt, in Berlin schlägt ein Dönerbuden-Besitzer auf einen israelischen Filmemacher ein, und in Frankfurt wird ein Rabbiner vor seinem Hotel antisemitisch beleidigt – die Liste dieser Vorfälle wird immer länger, und zwar jeden Tag.
Der Hamas-Terror wird verherrlicht, die Ermordung von Juden gefeiert – mitten in Berlin.
All das hinterlässt tiefe Spuren. In den vergangenen Tagen wurde ich von nichtjüdischen Journalistenkollegen oft gefragt, ob die jüdische Gemeinschaft in Deutschland wieder auf gepackten Koffern sitze. Ganz ohne Polemik würde ich die Frage so beantworten: Warum sollten ausgerechnet wir Juden die Koffer packen? Wer keinen Aufenthaltstitel hat und antisemitisch hetzt, muss ausgewiesen werden. Wer einen Aufenthaltstitel hat oder deutscher Staatsbürger ist, der muss strafrechtlich verfolgt und im Rahmen der Möglichkeiten hart bestraft werden.
Aus Angst vor einem Schub für den Rechtsextremismus, der ebenfalls eine Kampfansage an unsere liberale Demokratie gerichtet hat, darf man sich der Realität nicht verweigern. Zentralratspräsident Josef Schuster brachte es jüngst auf den Punkt: »Nicht alle gesellschaftlichen Konflikte, die durch Migration erzeugt werden, haben etwas mit Diskriminierung oder Rassismus zu tun. Sie zu verleugnen, wäre der wahre Affront auch gegenüber dem Großteil der friedlichen in Deutschland lebenden Muslime.«
Werden diese Maßnahmen ausreichen? Sicher nicht. Neben dem wehrhaften Rechtsstaat ist es wichtig, junge Menschen mit antisemitischen Einstellungen in Erziehung und Schule mit pädagogischen Mitteln in richtiges Fahrwasser zu bringen. Ob es dann reichen wird? Unklar. Aber es gibt keine andere Lösung.
Wer keinen Aufenthaltstitel hat und antisemitisch hetzt, muss ausgewiesen werden.
Vor genau drei Jahren hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in New York zum Erhalt der Leo-Baeck-Medaille eine bemerkenswerte Rede. Darin würdigte er das »Wunder der Versöhnung« zwischen Deutschen und Juden – und konstatierte: »Nur wenn Juden sich vollkommen sicher fühlen, ist Deutschland ganz bei sich.«
Es ist eine bittere Erkenntnis nach den zurückliegenden sehr schwarzen fünf Wochen: Deutschland ist außer sich. Noch nie war die Bundesrepublik so weit von sich und ihren Werten entfernt wie jetzt. Und keiner kann abschätzen, ob oder wann und unter welchen Umständen sich das wieder ändern wird.
engel@juedische-allgemeine.de