von Ulrich W. Sahm
Das Klischee einer israelischen Theokratie ist weit verbreitet. Es erhielt neue Nahrung, als Ministerpräsident Ehud Olmert vor dem Nahosttreffen in Annapolis die Forderung einer arabischen Anerkennung Israels als »jüdischer Staat« aufstellte. Gleichwohl gilt im »Staat der Juden« nach wie vor die gesetzlich verbriefte Religionsfreiheit, die – mit allen Einschränkungen – seit sechs Jahrzehnten im Alltag gelebt wird.
Ist Israel also doch kein jüdischer Staat? Aus deutscher Sicht liegt das erste Missverständnis am Schubladendenken und dem Mangel an passenden Begriffen, »Ju-
de« zu definieren. Die teilweise ungeheuerlichen und aus der Tradition des modernen Antisemitismus entstandenen Formulierungen wie »mosaischen Glaubens«, »jü-
dischstämmig« oder »Halbjude« liegen an geistigen Verrenkungen, um das vermeintliche Schimpfwort »Jude« zu vermeiden. Damit bleibt auch das jüdische Selbstver-
ständnis fremd, gleichzeitig Volk zu sein, eine Kultur oder Religion zu haben und über alle Welt verstreut zu leben. Zusätzlich gibt es religionslose Juden, die sich als Atheisten bezeichnen, kein Wort Hebräisch sprechen und jüdische Gebräuche verschmähen.
Alles eine Frage der Definition? In Is-
rael läuft seit 60 Jahren die von Staatsgründer David Ben-Gurion angestoßene Diskussion zur Frage »Wer ist Jude?«. Wichtig ist das für die bürokratische Um-
setzung des seit 1950 geltenden »Rückkehrrechts«, also der Berechtigung jüdischer Einwanderer bei der Ankunft auf dem Flughafen die Staatsbürgerschaft verliehen zu bekommen. Trotz des Gesetzes, wonach nur der Jude ist, der eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum konvertierte, wurden stillschweigend Menschen ins Land eingelassen, die als Juden verfolgt wurden, ohne Juden zu sein.
Im »jüdischen Staat« gibt es keine Staatsreligion und nicht einmal einen gesetzlich geregelten wöchentlichen Ruhetag, wie den Sonntag in Deutschland, der durch das Grundgesetz als »Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erbauung« geschützt ist. Jude, Moslem oder Christ kann selber bestimmen, ob er am Freitag, am Schabbat oder Sonntag seinen Laden schließt. In Haifa und Beer Schewa, Städten mit großer arabischer Minderheit, fahren auch am jüdischen Ruhetag Linienbusse und in Nazareth ohnehin.
Dass die großen Supermarktketten nur koschere Speisen verkaufen, hat geschäftliche Gründe. Daneben gibt es selbst im überwiegend jüdisch-frommen Jerusalem mitten im Zentrum Delikatessenläden, die zu überhöhten Preisen Schweinerippchen und Shrimps feilbieten. In der Armee wird koscher gekocht, auch weil das der niedrigste gemeinsame Nenner ist für Juden, Moslems, Drusen und Christen.
Mangels staatlicher Standesämter können etwa 300.000 Menschen in Israel nicht heiraten. Als »Diktatur der Orthodoxen« werden immer wieder tragische Fälle hochgespielt, wenn Soldaten ohne Religionsangehörigkeit nicht begraben werden konnten. Dennoch: Israel hält an den alten Re-
geln der Osmanen fest, alle standesamtlichen Angelegenheiten den anerkannten Religionsgemeinschaften zu überlassen.
Die Auswege, eine Reise zum Standesamt in Zypern, oder zwei Quadratmeter Boden für ein Grab in einem weltlichen Kibbuz zu kaufen, sind teuer. Das Thema wird öffentlich diskutiert, vor allem innerhalb der jüdischen Gesellschaft. Aber noch scheut sich Israel, die Befugnisse der Religionen zu beschneiden.
Innerhalb der jüdischen Gesellschaft Is-
raels gibt es Gruppen und Strömungen mit unterschiedlicher Frömmigkeit. Die schlossen sich zu politischen Parteien zu-
sammen. Deren Hauptinteresse liegt allerdings nicht in der »großen Politik«, Beziehungen zu den Palästinensern, Siedlungen oder strategische Militärfragen.
Die teilweise antizionistisch orientierten ultraorthodoxen Parteien schließen sich traditionell der Regierungskoalition an, wollen aber keine Verantwortung übernehmen. Sie verlangen den Vorsitz des Fi-
nanzausschusses in der Knesset. Die orientalisch-fromme Schas-Partei stellt Minister und bemüht sich um Gelder für fromme Schulen. Ebenso will sie russische Schweinefleischläden aus Stadtzentren in die Industriezonen am Stadtrand verdrängen. Auf dem Höhepunkt der Popularität von Schas bildete sich als Gegengewicht die weltlich liberale Schinui-Partei mit dem Programm, den Einfluss der Frommen einzudämmen.
Diese beiden Phänomene zeigen: in Israel wird der »Kulturkampf« mit demokratischen Mitteln ausgefochten.