von Jonathan Scheiner
Als drei Viertel von Bachs »Wohltemperiertem Klavier« in der Berliner Philharmonie gespielt waren, schaute der Pianist unvermittelt auf, als wolle er sich versichern, wie es um das Aufnahmevermögen seines ihm bereits völlig ergebenen Publikums bestellt war, und führte dann seine kühne Bach-Interpretation einem furiosen Finale zu. Dramaturgisch gesehen war diese Geste unumstrittener Höhepunkt eines sensationellen Konzertabends. Musikalisch gibt es viele dieser unvergleichlichen Momente im Leben des Maestros. Daniel Barenboim, am 15.11.1942 in Buenos Aires als Sohn eines russisch-jüdischen Pianistenpaares geboren, zählt unbestritten zu den größten lebenden Dirigenten und Pianisten. Groß ist er nicht zuletzt deshalb, weil er auch ein Grenzgänger ist, einer, der sich einmischt.
Diese menschliche Qualität strahlt zurück auf ein vielgestaltiges Oeuvre, das Bach, Beethoven und Wagner ebenso umspannt wie Tango, Jazz und brasilianische Popmusik. Auch eine klassische Komposition wie das »Wohltemperierte Klavier« ist für Daniel Barenboim nicht einfach nur ein Werk, das es in seiner ästhetischen Vollkommenheit zu meistern gilt, sondern eines, das er wegen seiner technischen Vertracktheit von vielen unterschiedlichen Seiten her beleuchten will. Dafür, so scheint es, ist ihm jedes musikalische Mittel recht, bei Bedarf auch die Übertreibung, die Überspannung, die Überreizung. Diese Herangehensweise gilt auch für den Dirigenten Barenboim, der die Partituren wie kein Zweiter dynamisiert. Sein öffentliches Debüt als Pianist gab Daniel Barenboim bereits mit sieben Jahren, 1949. Zwei Jahre später nahm er seine erste Platte auf. Nach dem Studium in Salzburg und Paris spielte er als Solist mit vielen großen Orchestern und begann gleichzeitig, sich dem Dirigat zuzuwenden. Seit 1967 hat Barenboim Ensembles in London, Paris, Chicago und Bayreuth geleitet. Seit 1992 ist er Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Bis zu ihrem Tod 1987 war Daniel Barenboim seit Juni 1967 mit der Cellistin Jacqueline du Pré verheiratet. Seine zweite Ehefrau seit 1988 ist die Pianistin Jelena Baschkirowa, mit der er zwei Söhne hat.
So gefeiert der Musiker weltweit ist, so umstritten ist er in Israel, seiner Heimat seit seinem zehnten Lebensjahr. 2001 brach der Dirigent das israelische Wagner-Tabu, als er bei einem Konzert des Staatskapelle Berlin als Zugabe Auszüge aus »Tristan und Isolde« spielte. Natürlich weiß auch Barenboim, dass Richard Wagner ein übler Antisemit war, dessen Meistersinger-Ouvertüre von den Nazis als Gaskammermusik missbraucht wurde. Aber der Dirigent differenziert zwischen dem Antisemiten Richard Wagner und dem großen Komponisten, ebenso wie er seinen Lehrmeister Furtwängler, der den jungen Barenboim schon früh als »Phänomen« bezeichnet hatte, vom öligen Nazi-Parteigänger unterschied.
In seiner Heimat nahmen (und nehmen immer noch) ihm das viele übel. Nach dem Wagnerkonzert galt er manchen Hardlinern als Persona non grata. Auch dass Barenboim als Dirigent des West-Eastern Divan Orchestra mit jungen arabischen und israelischen Musikern an »Un-Orten« wie Ramallah aufgetreten ist, wird nicht von jedermann dies- und jenseits des Sicherheitszaunes gerne gesehen. Trotzdem wurde ihm in der Knesset 2004 der Wolf-Preis, sozusagen Israels Nobelausauszeichnung, überreicht, als, so die Jury, »Person von profunder Musikalität und humanitärem Engagement«.Zwei Jahre davor hatte Barenboim gemeinsam mit seinem Freund, dem mittlerweile verstorbenen palästinensischen Wissenschaftler und Aktivisten Edward W. Said Spaniens Prinz-von-Asturien-Preis erhalten.
An diesem Donnerstag wird der große Musiker und couragierte Grenzgänger Daniel Barenboim 65 Jahre alt. Masel Tov!