von Rabbiner Tom Kucera
Bamidbar, im Midbar, wird immer als »in der Wüste« übersetzt. Interessanterweise steht im Englischen »in the wilderness«. Die Wildnis ist unbewohntes Land ohne Menschen, dazu oft auch Weideland. Die Israeliten hatten viele Tiere, und Weideland war sicher ein Bedürfnis. Was denken wir von der Wildnis? Ist sie anziehend? Der beeindruckende Film Into the Wild (In der Wildnis) beschreibt die wahre Geschichte des 23-jährigen Chris McCandless, der nach seinem Uni-Abschluss alles hinter sich ließ: seine Heimatstadt, sein Elternhaus, alle Beziehungen, jeden Kontakt. Seine Ersparnisse von mehr als 20.000 Dollar hat er gespendet und sich zu Fuß, ohne einen Cent in der Tasche, in die Wildnis begeben.
Würden wir das auch machen? Wahrscheinlich nicht. Wir würden sogar eine wissenschafliche Erklärung liefern, dass der Junge ein »Novelty Seeker« war, jemand, der ständig nach etwas Neuem sucht. Wir würden betonen: Wenn im Gehirn genug von dem Botenstoff Dopamin produziert wird, bekommen wir bei jeder normalen Wahrnehmung die Meldung: Neues entdeckt, und müssen nicht mehr aktiv danach suchen. Diejenigen mit einem niedrigeren Dopaminspiegel sind von ihrer Umgebung schneller gelangweilt und sozusagen gezwungen, ständig neue Wege zu gehen. Das betrifft die meisten von uns nicht, deswegen sind wir auch keine Neuheitssucher.
Nichtsdestotrotz lädt uns die Paraschat HaSchawua mit ihren ersten Worten ein, über die Midbar, die Wildnis, Neuheitssucher zu sein, über ein unbewohntes Land nachzudenken, in dem die Israeliten grundlegende Regeln des jüdischen Lebens bekommen haben, in dem sie auch zu einer persönlichen Weisheit gekommen sind. Sie rechneten sicherlich nicht damit, mehrere Jahrzehnte in der Wildnis nahe dem gelobten Land herumzuwandern.
Auch in der Neuzeit war die Midbar eine Inspiration für Neues: Ben Gurion träumte davon, dass der zukünftige jüdische Staat die Negev-Wildnis besiedeln und kultivieren würde. Auch wenn dieser Traum durch den UN-Teilungsplan von 1947 aufgezwungen sein mag, ändert es nichts an der Stärke der Vision.
Jeder Mensch, der viel Zeit in Israels Midbar verbrachte, kann von der Erfahrung berichten, wie klein und unbedeutend man sich vorkommt. Es stellt sich die allgemeine Frage, ob es wirklich Ziel der spirituellen Erfahrungen sein soll, sich selbst zu vergessen. Ist dieser attraktive Gedanke mehr buddhistischer Natur? Denn mit dem Konzept von Tikkun Olam, das eine gezielte und selbstbewusste Mühe bevorzugt, um das Mangelhafte dieser Welt zu überwinden, lässt er sich nicht vereinbaren.
Eine gewisse Anwort auf dieses spirituelle Dilemma bietet die Midbar-Erfahrung an. Sie macht uns klein, doch gleichzeitig gibt sie uns eine enorme Kraft. Das menschliche Leben wird gelegentlich mit einer hedonistischen Tretmühle verglichen: Auf der Suche nach Glück mühen wir uns ab, doch wenn wir das erste Ziel erreichen, stellt sich das alte, gleichmütige Gefühl wieder ein. Der Vorteil davon ist, dass nicht nur unser Glück, sondern auch unser Unglück, unser Schmerz, unsere Empörung dahinschwinden.
Was wäre die richtige Einstellung? Dass man sich auf die Gegenwart einlässt, auf das Hier und Jetzt. Ein Philosoph hat es einmal so ausgedrückt: »Man darf das Vorhandene nicht beflecken durch das ungeduldige Verlangen nach dem noch nicht Vorhandenem.«
Wenn dieser Spruch mit einem Wort aus dem jüdischen Wortschatz beschrieben werden sollte, müsste man sagen: Bamidbar. Im Midbar zu sein, ist eine Schule, um das Hier und Jetzt zu schätzen. Der Dichter Jehuda Amichaj beschreibt den Midbar folgendermaßen: »Was ist hier Schlaf und was Wachsein? Was Schweigen, was Reden? Was Trauer, was Freude? Was Hoffnung, was Verzweiflung? Was männlich, was weiblich? Was Leben, was Materie?«
Der Autor ist Rabbiner der Liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München.