von Natan Sznaider
Der hoch emotionale Auftritt des israelischen Staatspräsidenten Moshe Katzav konnte niemanden gleichgültig lassen. Da stand einer auf der Bühne, seine Familie in der ersten Reihe, das Rudel der Journalisten dahinter, das nur darauf wartet, sein Blut zu trinken – so jedenfalls sah der Präsident die Welt. Man beschuldigte ihn der sexuellen Nötigung, der Vergewaltigung, der Zeugeneinschüchterung. Aber für Moshe Katzav waren alle anderen schuld. Vor allem die sogenannten Eliten. Zu denen zählte sich der ehemalige Bürgermeister, ehemalige Abgeordnete und bald ehemalige Präsident selber offenbar nicht. Doch wie kann man all diese Funktionen ausfüllen – sogar Staatspräsident sein – und nicht zur Elite gehören? Wie tief sitzt die Kränkung einer ganzen Generation, wenn sogar der Inhaber des Präsidentenamtes sich immer noch als fremd im eigenen Land versteht?
Katzav wurde 1945 im Iran geboren und kam als Sechsjähriger mit seinen Eltern nach Israel. Dort wuchs er in einem Auffanglager für Neueinwanderer auf. Mit 24 Jahren wurde er in einer kleinen Gemeinde im Süden Israels zum jüngsten Bürgermeister des Landes, und im Alter von 32 hatte er schon einen Sitz im Parlament. Seitdem bahnte er sich langsam seinen Weg nach oben, bis er am Ende seiner politischen Laufbahn schließlich Präsident war. Kurz vor Ende seiner Amtszeit wurde nun öffentlich, was man in verschiedenen Kreisen wohl munkelte: Der Präsident ist anscheinend ein Frauenbelästiger und sogar ein Vergewaltiger. So will es jedenfalls die Staatsanwaltschaft wissen. Der 40-jährige Aufstieg Katzavs war innerhalb von sechs Monaten beendet.
Kurz darauf wurde auch der ehemalige Justizminister Haim Ramon wegen sexueller Nötigung verurteilt. Ramon – der Liebling der Medien, an dessen Zugehörigkeit zur Elite niemand zweifelte. Auch seine politische Karriere wurde gestoppt. Noch nie zuvor hat ein Gericht so mit einem Minister gesprochen. Ramon wurde von den Richtern über die neue sexuelle Korrektheit in Israel aufgeklärt. Die Richter und die Gerichte traten als Träger eines als universal verstandenen Vernunftglaubens auf, den sie meinten, gegen die politische Klasse verteidigen zu müssen. Nun gibt es nur noch die Wahl zwischen dem Despotismus der Tradition und dem Despotismus der Vernunft, den die Gerichte für sich in Anspruch nehmen. Die Justiz versucht, den Gegensatz verschiedener Lebenskonzepte in einem so gespaltenen Land wie Israel von oben gerichtlich aufzulösen.
Wie in anderen Ländern gibt es auch in Israel Probleme mit der Definition der Zivilgesellschaft als einer auf Gleichheit und Universalismus beruhenden Vergesellschaftungsform, die die partikularistischen Eigenheiten verschiedenster Gruppen im Namen universaler Rechte wegdefinieren möchte. Liberale Toleranz wird dem Kampf für die aufrechte Gesinnung geop-fert. In Israel heißt die »richtige« Gesinnung: »Rechtsstaat« und »Verfassung«. Nachdem Frieden für die meisten Israelis zu einer hoffnungslosen Illusion geworden ist, versucht das ehemalige Friedenslager – ein bestimmtes Milieu aus Professoren, Journalisten, linken Abgeordneten usw. – seine gesellschaftliche Deutungshoheit zurückzugewinnen. Dazu benutzt es den Begriff des Rechtstaats als Mantra, so wie es in den neunziger Jahren den Begriff des Friedens benutzt hat. Beides müsse gegen Fundamentalisten aller Farben, Gesinnungen und Geschlechter verteidigt werden. Es geht darum, Andersdenkende und politische Gegner als primitiv und rück-schrittlich abzuwerten und ihnen so die Legitimität abzusprechen.
Natürlich wird mit der Demokratie argumentiert. Ist Israel nicht die einzige Demokratie im Nahen Osten? Ist Israel nicht im Grunde ein in den Nahen Osten ausgelagertes Europa, hinter dem der Orient beginnt? Und noch etwas kommt hinzu: Israel gilt als Inbegriff einer ethnischen Na- tion. Ist das in Israel gültige Rückkehrergesetz, das jedem einwandernden Juden sofort die israelische Staatsbürgerschaft zuspricht, nicht ein eindeutiger Beweis für diese ausschließlich ethnisch definierte Nation? Dazu kommt noch die tagtägliche Bedrohung von außen. Angesichts dieser müsste man annehmen, dass es nichts Solidarischeres gibt als diesen Staat. Wenn sich schon alle Juden in der Diaspora mit Israel solidarisieren sollen, sollte das nicht für die Israelis selbst erst recht gelten? Dabei ist offenbar vielen entgangen, dass Israel in den mehr als 50 Jahren seiner Exis-tenz zu einer Melange ganz verschiede- ner sprachlicher und kultureller Gruppen geworden ist, die nur durch gegenseitige tiefe Abneigung, die sich mitunter sogar zum Hass steigert, zusammengehalten wird. Israel ist nicht der verlängerte Arm Europas, als der es auch dort oft gesehen wird. Dies mag auch einer der Gründe für die europäische Abneigung gegen Israel sein: »Wie kann ein Staat, der so ist wie wir, sich derart daneben benehmen?«, heißt es dort in aufgeklärten Kreisen.
Die entsprechenden Kreise in Israel sehen es ähnlich. Auch wenn die politischen und sozialen Ziele, die man sich gesetzt hat, nicht verwirklicht werden konnten, so hat man doch das befriedigende Gefühl, dass man moralisch richtig handelt. Man kämpft auf der Seite der Guten gegen das Unrecht. Liberale in Israel sind über die Vorurteile der orientalischstämmigen Bevölkerung aufgebracht. Sie sind gleichzeitig von der ehrlichen Überzeugung durchdrungen, dass sie selbst keinerlei Vorur- teile hegen. Wie könnten sie auch? Ihre Prinzipien sind doch die der Aufklärung. Folglich müssen die anderen das Gegenteil der Aufklärung verkörpern. Die Liberalen, nicht nur in Israel, erliegen einer Illusion, indem sie glauben, dass man sich in Israel ständig der Aufklärung nähert und dass Israel langsam, aber sicher von den verschiedenen partikularistischen Standpunkten zu einem wertfreien Universalismus gelangt, der von allen verstanden wird.
Der Ausbruch von Noch-Präsident Katzav ist nur ein Symptom dieses Prozesses. Eigentlich wäre diese Mischung aus Multikulturalismus, Fundamentalismus und Rechtsstaatlichkeit ein Grund zum Feiern, denn sie zeigt, wie modern Israel ist. Andererseits ist dieser Staat ständigen Bedrohungen ausgesetzt und muss sich verteidigen können. Diese Prozesse machen den israelischen Staat verwundbarer, als es die Raketen der Hisbollah allein je vermögen. Deshalb sind diese Raketen auch so gefährlich. Ein solidarischer und militarisierter Staat kann diese verkraften. Aber die beschriebene Modernität hat Israel verwundbarer gemacht. Und das ist auch der Grund, warum die militärischen Gegenreaktionen so heftig sein müssen: Anders kann der Staat nicht mehr überleben. Die Unverhältnismäßigkeit der militärischen Mittel ist die Antwort auf Israels gesellschaftliche Modernität.
Aber wo das Ende droht, lockt auch ein neuer Beginn. Damit kommt die Frage auf, ob es so etwas wie »liberale Ungleichheit« geben darf. Diese Auseinandersetzung ist nicht das Ende der »wahren« israelischen Identität. Davor warnen vor allem diejenigen, die ihre kulturelle Vormachtstellung langsam dahinschwinden sehen. Diese altmodischen Modernisten wollen in der israelischen Identität ein allumfassendes nationales Projekt sehen, zusammengehalten von Sprache, Militärdienst und Patriotismus, ob mit oder ohne Verfassung. Aber in Israel sind Kultur und staatliche Politik nicht zu trennen. Daher ist der Konflikt zwischen den Eliten und den nicht Dazugehörenden ein kultureller und politischer, in dem (nicht nur) nationales, religiöses und ethnisches Judentum aufeinandertreffen. Dieser Konflikt ist die Bühne, auf der die israelische Identität neu konstituiert wird. Katzavs Rede ist ein Teil dieses Konflikts, den es schon immer gab, von dem man außerhalb Israels aber wenig weiß, weil Israel in den Augen der von außen Schauenden ein homogener Staat ist, der um sein Überleben kämpft. Aber vielleicht ist es gerade dieser Konflikt, der Israel am Ende Europa doch ähnlicher macht, als man auf den ersten Blick annehmen würde. Diese Ähnlichkeit kann freilich auch zur Gefahr werden, denn Israels Eliten wägen sich in der Illusion, den Nahen Osten verlassen zu haben.
So wird Israel Teil des Globalisierungsprozesses, dessen Sog man sich auch hier nicht entziehen kann. Globalisierung bedeutet, dass sich ethnische Identitäten jenseits des Nationalstaats entwickeln und diesen unterlaufen. Israeli zu sein kann heute ebenso bedeuten, dass man seine jüdisch-orientalische Identität ernst nimmt und dass man paradoxerweise, beeinflusst durch westlichen Multikulturalismus, alles Westliche ablehnt. Orientalische Juden werden zu Israelis, weil sie nicht nur die »Eliten« verabscheuen, sondern das gesamte, in ihren Augen westlich orientierte Establishment. Und israelische Frauen sind nicht bereit, gewisse männliche Traditionen über sich ergehen zu lassen. Die Bewohner dieser postnationalen und globalen Gesellschaft sind ständig damit be- schäftigt, Kategorisierungen neu zu formulieren und wieder über den Haufen zu werfen. Die Mischung, die dabei herauskommt, ist kein Zeichen von Integrationsversagen, sie ist vielmehr genau jene Individualität, welche in dieser neuen Gesell- schaft Identität und Integration bestimmt. So entsteht Individualität durch Überschneidungen und Konflikte mit anderen Identitäten. Jeder Einzelne erbringt dabei eine kreative Leistung. Die israelische Öffentlichkeit wird zu einem Raum, in dem Spaltungen durch Konflikte überwunden werden können und wo bestimmte Formen von Gleichgültigkeit und sozialer Distanz einen positiven Beitrag zur Integration der Gesellschaft leisten. Die Gesell- schaft hält stärker zusammen, weil sie stärker gespalten ist; die Spannungen werden dadurch kleiner und nicht etwa größer.
Aus der Perspektive der »neuen Israelis« bedeutet das: Es wird einfacher, verschiedene Kombinationen auszuprobieren. Die »Neuen« finden mehrere, sich überschneidende Identitäten vor und leben aus der Kombination heraus. Der geschlossene Raum Israel existiert nicht mehr. Und das in einer Zeit, da Israels Feinde es am liebs-ten von der Landkarte wischen möchten. Dem Land bleibt aber wohl keine andere Wahl. Das ist der Preis der Modernisierung.
Der Autor lehrt Soziologie am Academic College in Tel Aviv.