von Jonathan Rosenblum
Was die Weitergabe bleibender jüdischer Werte von einer Generation an die nächste betrifft, ist der Pessachabend der Höhepunkt des Jahres: »Und du sollst deinem Sohn an diesem Tag sagen ...«
Unser Ziel ist, daß jeder Teilnehmer am Seder die Größe dessen, was Gott für uns getan hat, als er uns aus Ägypten erlöste, erkennt. Je mehr wir vom Auszug aus Ägypten berichten, desto lobenswerter ist es, denn der Dankbarkeit sind keine Grenze gesetzt.
Diese Dankbarkeit verlangt, daß der Seder mehr ist als das Gedenken an Ereignisse, die vor 170 Generationen stattfanden. Der Exodus muß für uns als ein Er- eignis gegenwärtig werden, das sich auch heute noch unmittelbar auf unser Leben auswirkt. Nur wenn wir uns so sehen, als zögen wir gerade selbst aus Ägypten aus, erfüllen wir das Gebot des Seders.
Wir beginnen mit: »Wenn Gott unsere Vorfahren nicht aus Ägypten herausgeführt hätte, wären wir und unsere Kinder und unsere Kindeskinder noch immer Sklaven des Pharaos.« Die spirituelle Verkommenheit Ägyptens wäre noch immer Teil unserer selbst, denn wir hätten nie als ein einiges Volk überlebt, das in der Lage war, Gottes Tora in Empfang zu nehmen.
Die Rabbiner haben uns recht deutliche Hinweise darauf gegeben, wie wir die Exodusgeschichte erzählen müssen, um das Gefühl der Dankbarkeit und des Wiedererkennens unserer selbst in den geschilderten Begebenheiten zu vertiefen. Die Geschichte muß mit dem Bericht unserer er- niedrigenden Knechtschaft in Ägypten und sogar noch früher beginnen (»Am Anfang beteten unsere Vorfahren die Sterne an ...«) und mit dem Lobpreisen des jüdischen Volks enden. Und das Wiedererzählen dieser Ereignisse muß in Frage- und Antwort-Form geschehen. Auch vom größten Gelehrten, der das Sedermahl allein verzehrt, wird erwartet, daß er die vier Fragen rezitiert, die traditionellerweise das jüngste Kind am Tisch stellt.
Sowohl Form als auch Inhalt der Erzählung gründen auf einem einfachen psychologischen Prinzip: Ein Mensch kann etwas nur dann wirklich würdigen, wenn er vorher dessen Abwesenheit erfahren hat. Um ein Leben in Freiheit, Gott zu dienen, uneingeschränkt würdigen zu können, mußten wir erst dessen Gegenteil erleben: eine grausame und erniedrigende Sklaverei, die uns unfähig machte, an irgendetwas anderes zu denken außer daran, wie wir den nächsten Tag überleben.
Jeder Frage liegt ein Mangel an Kenntnissen oder an Verständnis zugrunde. Erfahrenen Lehrern ist bekannt, daß Schüler Wissen viel besser aufnehmen, wenn sie selbst nach diesem Wissen verlangen, wenn es als Antwort auf eine Frage kommt.
Von Anfang an haben unsere Vorfahren Ägypten als eine einzige fortdauernde Frage erfahren. Josefs Brüder konnten im Verhalten des hartherzigen Vizekönigs, der ihnen entgegentrat, als sie zum ersten Mal nach Ägypten kamen, um Getreide zu kaufen, keinen Sinn sehen. Erst als sich Josef zu erkennen gab, klärte sich alles auf. Und als die Generation von Josef und seinen Brüdern abgetreten war und ein neuer Pharao, »der Joseph nicht kannte«, an die Macht kam, konnten die israelitischen Nachfahren die Brutalität, der sie ausgesetzt waren, nicht verstehen. Selbst Moses fragte Gott, warum Er das Volk so schlecht behandele.
Gott gab zur Antwort: »Jetzt wirst du sehen, was ich dem Pharao antun werde.« Die ägyptischen Plagen waren in gewissem Sinne die Antwort auf eine Frage.
Jakob und seine Söhne waren gezwungen, ins Exil zu gehen, lehrten die Rabbiner, um einen winzigen Mangel im Glauben von Awraham Awinu zu beheben.
Und durch alles, was sich in Ägypten ereignete, wurden die Nachfahren Jakobs zu noch nie dagewesenen Höhen des Glaubens emporgehoben und auf den Empfang der Tora vorbereitet.
Die Wunder in Ägypten und am Roten Meer nötigten sie, Gottes absolute Herrschaft über die Natur anzuerkennen. Und weil Gott auf ihr Flehen antwortete, begriffen sie, daß Er kein blinder Uhrmacher ist, der das Universum in Bewegung setzt, sondern daß Er sich aktiv in die Menschheitsgeschichte einmischt. Und nicht zuletzt bestätigten die Vorhersagen jeder einzelnen Plage, ihres Anfangs und Endes durch Moses die Wahrheit seiner Prophetengabe, die das Fundament der ganzen Tora bildet.
Es gibt keine größere Freude, sagen die Weisen, als die Lösung eines schwierigen Problems. Mit einem blendenden Blitz in Ägypten waren für unsere Vorfahren alle Fragen geklärt. Wir erzählen die Geschichte in der Form von Fragen und Antworten, um diese Erfahrung aufs Neue zu durchleben.
Die Abwesenheit von etwas – sei es Wissen oder Freiheit – hilft uns, nicht nur das abwesende Objekt zu würdigen, sie setzt auch in uns brachliegendes Potential frei.
Als Gott Awraham sagte, er solle das Haus seines Vaters verlassen, um in »das Land, das ich dir zeigen werde« zu ziehen, äußerte er sich nicht näher über den endgültigen Bestimmungsort. Gott wollte, dass das verheißene Land zum Ziel von Awrahams ganzem Streben werde, ein Ideal, das nie ganz erreicht wird und nicht nachlassende Anstrengungen verlangt. Auf ähnliche Weise begann das erstaunliche Wachstum des jüdischen Volkes in Ägypten erst dann, als die Letzten der Generation von Josef und seinen Brüdern gestorben waren. Die siebzig Seelen, die nach Ägypten herabzogen, standen für einen bestimmten Grad der Vollendung.
Erst mit dem Verlust dieser Vollendung wurde ein Prozeß in Gang gesetzt, der zur nächsten Stufe der Vollendung führte – die 600.000 Seelen, die die Tora empfingen.
Am Seder tun wir alles in unserer Macht Stehende, um die Neugier der Kinder zu wecken und sie zum Fragen zu bewegen. Unser Ziel ist ein Zweifaches: die Exodusgeschichte in ihren Augen kostbar zu machen und ihr Potential zu entdecken.
Kurz vor den vier Fragen wird der Sederteller vom Platz des Gastgebers weggenommen. Unsere Hoffnung ist, daß die Kinder fragen: Warum nehmen wir den Teller weg, bevor wir überhaupt angefangen haben? Aber wenn sie den Köder schlucken und die Frage tatsächlich stellen, haben wir nichts zu erwidern außer: Nur damit ihr fragt.
Wenn wir die Kinder zum Fragen ermuntern, geben wir ihnen in einem tieferen Sinne einen Hinweis darauf, daß sie selbst das Instrument für Veränderungen sind: »Ihr habt dasselbe Potential wie euer Vorvater Awraham, der in eine Familie hineingeboren wurde, die Götzenbilder anfertigte, und dennoch der ganzen Welt das Wissen von Gott brachte. So wie Awraham das Licht in eine von Dunkelheit eingehüllte Welt brachte, so möget ihr das Verdienst erwerben, eine Welt zu sehen, in der Gottes Licht an die Stelle Seiner gegenwärtigen Verborgenheit tritt.«
Die endgültige Erlösung wird ein Ende aller unserer gegenwärtigen Schwierigkeiten bringen und den Prozeß vollenden, der vor langer Zeit begann, als Gott mit mächtiger Hand und ausgestrecktem Arm unsere Vorfahren aus Ägypten herausführte.
Der Autor ist Direktor von »Jewish Media Resources«, Jerusalem/Israel