von Gabriele Sümer
Laute Kinderstimmen dringen aus dem Untergeschoss des Kasseler Synagogengebäudes. Die Vorschule für die Jüngsten der Gemeinde neigt sich dem Ende entgegen. Als um Punkt 16 Uhr die Tür aufgerissen wird, stürmen die meisten Kinder zur Treppe, wo ihre Eltern warten. Sechs Jungen und Mädchen aber schälen sich aus der Gruppe und gehen Richtung Nebenraum. Sie müssen nicht etwa nachsitzen. Nein, sie bleiben freiwillig, um am Kinderlehrhaus teilzunehmen.
Im Max-Grossbach-Saal, dem größten Raum des Hauses, werden sie bereits von Esther Haß erwartet. »Jeder von euch kann sich ein Kissen nehmen und vorne auf den Boden setzen«, sagt die Gemeindevorsitzende. Dann schaltet sie den Projektor an. Wie schon vor zwei Wochen soll es heute um das bevorstehende Purimfest gehen. »Ich habe euch doch neulich eine Geschichte vorgelesen. Jetzt wollen wir sehen, was ihr behalten habt«, sagt sie und wirft das erste Bild an die Wand. »Das ist ein König, sein Name ist schwer«, liest Esther Haß vor. »Er heißt ...« Sie hebt die Stimme und wartet. David, mit viereinhalb Jahren der Jüngste, weiß die Lösung. »Achaschwerosch« sagt er langsam und sehr leise. Auch Mordechai wird schnell erkannt. »Und wer ist die schöne Frau?«, will Haß beim nächsten Bild wissen. Es dauert etwas, bis Alexej der Name Esther einfällt. Dass der »sehr böse Mann« Haman heißt, hat sich dagegen keines der Kinder gemerkt.
Beim Kinderlehrhaus, das seit Mai 2006 alle zwei Wochen stattfindet, werden nicht die großen Glaubensfragen behandelt. »Steter Tropfen höhlt den Stein«, sagt Esther Haß. Bei der Purimgeschichte etwa sollten die Kinder erst einmal die Namen der handelnden Personen lernen. Das sind kleine Schritte auf dem Weg zu einem ehrgeizigen Ziel. »Irgendwann in ferner Zukunft wollen wir ein Lehrhaus für alle haben, für Kinder, Jugendliche und Erwachsene«, erzählt sie. Bis dahin müsse erst einmal grundlegendes Wissen über das Judentum neu »eingepflanzt« werden.
Das gelte vor allem für die Mitglieder, die aus den Staaten der früheren Sowjetunion stammen. Ihr Anteil in der über 1.000-köpfigen Kasseler Gemeinde liegt bei 97 Prozent, auch wenn das Zuwanderungsgesetz vor zwei Jahren den Zustrom abrupt gestoppt hat. »Das Religionswissen und die Religionspraxis bei den Zuwanderern sind minimal«, sagt Haß. Dieses Defizit aufzuarbeiten, brauche einen enormen Vorlauf. Auch die Idee des Kinderlehrhauses müsse sich erst allmählich bei den Eltern und Großeltern durchsetzen. »Mal kommen sieben Kinder, mal fünf, manchmal auch nur zwei«, berichtet Esther Haß.
David, Alexej, Gabi, Daniel, Samira und Nathan gefällt das nachmittägliche Angebot. Sie kommen zum Teil von Beginn an regelmäßig zum Lehrhaus. Hier lernen sie die verschiedenen jüdischen Feste kennen, die Segenssprüche und biblischen Geschichten. Sie mögen die mit lustigen Bildern erzählte Handlung um die schöne und mutige Esther – auch wenn sie nicht sofort alle Einzelheiten verstehen. »Was ist eigentlich ›Adar‹«, will etwa Alexej wissen.
Noch können sie die Gefahr, die den persischen Juden in der Purimgeschichte droht, nicht ganz verstehen. Dass die Erzählung mit ihnen persönlich zu tun hat, muss Esther Haß ihnen erst bewusst machen. »Wen wollte Haman umbringen lassen?«, hakt die ehemalige Lehrerin nach. Keines der Kinder weiß es. Esther Haß muss helfen: »Alle Juden«, liest sie noch einmal vor. »Und? Bist du nicht auch ein Jude?«, fragt sie erst ein Kind, dann die übrigen. Einige leugnen entschieden, andere zucken nur die Schultern. »Jetzt muss ich aber lachen«, ruft Haß mit gespielter Empörung. »Ihr seid doch alle jüdische Kinder.«
Über die Reaktion ihrer Schüler wundert sich Esther Haß nicht. Das sei auch bei christlichen oder muslimischen Kindern dieses Alters nicht anders. Sie findet es eher positiv, dass die Kleinen noch so unbefangen mit ihrem Judentum umgehen. Das Kinderlehrhaus sei ein guter Ort, um sie an dieses Thema heranzuführen. »Es ist besser, sie erfahren es hier, als wenn andere es ihnen nachrufen«, sagt die Gemeindevorsitzende. »Ich will sie zu bewussten jüdischen Kindern erziehen.«
Auffällig ist die Ruhe, mit der die kleine Kinderschar im großen Max-Grossbach-Saal bei der Sache ist. Jedes von ihnen hat ein Purimbuch zum Ausmalen bekommen. Sofort greifen sie zu den Buntstiften und verschönern die Bilder von Königin Esther, Mordechai und den anderen. »Unser Rabbiner sagt, er habe die Kinder noch nie so still am Tisch sitzen sehen wie beim Lehrhaus«, erzählt Haß nicht ohne Stolz. Was die Beschäftigung mit dem Glauben so besonders macht, können die Kinder selbst nicht beschreiben. Vielleicht ist es der Kontrast zu dem, was sie sonst gewohnt sind. »Zu Hause lese ich Harry Potter«, sagt Alexej. Die Geschichten, die sie bei Esther Haß kennenlernen, seien »irgendwie anders«, findet der Achtjährige.
Das Kinderlehrhaus ergänzt den offiziellen Religionsunterricht für die Schulkinder und richtet sich in erster Linie an die Fünf- bis Zehnjährigen. Zwei Dinge seien wichtig, um den Jüngsten den jüdischen Glauben nahezubringen, erklärt Esther Haß: dass der Unterrichtsstoff mehrmals wiederholt und dass er anschaulich vermittelt wird. Darum stehen immer wieder Basteln und Malen auf dem Programm. Demnächst will sie zum ersten Mal eine kleine Tora-Rolle mitbringen, die die Lehrhaus-Teilnehmer dann auch anfassen dürfen.
»Die Kinder sind unsere Zukunft. Wir müssen von unten anfangen, um das Judentum wieder aufzubauen«, sagt Esther Haß. Sie hofft, dass ihre Schüler die neuen Eindrücke in ihre Familien tragen. Auch David, Samira und die anderen Kinder haben heute etwas mitgenommen. Schnell laufen sie nach der Stunde zu ihren Eltern und zeigen stolz ihre Purimbücher. »Ihr könnt sie ja später zu Hause vorlesen«, ruft Esther Haß ihnen nach.