9. November 1938

»Wer das getan hat, der ist zu allem fähig«

Hamburg
Akustisch habe ich keinerlei Erinnerung an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Der Hamburger Norden, wo wir wohnten, blieb unbehelligt – in unserer unmittelbaren Umgebung gab es weder Synagogen noch jüdische Geschäfte. Am nächsten Morgen fand ich im Johanneum eine Atmosphäre vor, in der die Dinge nicht beim Namen genannt, sondern gedämpft umschrieben wurden, etwa: »dass Scheiben geklirrt haben«, Gerüchte, dumpfe. Die Stimmung in der Klasse war sonderbar, mit unterschiedlichen Reaktionen. Ich erinnere mich an Schadenfreude – »Endlich wird’s denen mal gegeben« –, aber auch an Sätze, die von Trauer und Wut zeugten: Die Innenstadt, »von Barbaren verwüstet«, sei nicht wiederzuerkennen, und es sei »mehr als Glas zerbrochen worden«. Wer das Ziel, wer die Opfer waren, das war so selbstverständlich, dass sie nicht genannt wurden: Juden. Ich war aufs Höchste alarmiert. Und so machte ich mich denn sofort nach Unterrichtsschluss von Winterhude auf in die Stadt, zu Fuß, um das Fahrgeld zu sparen, innerlich gespalten von der Pflicht, es gesehen haben zu müssen, und dem Wunsch wegzulaufen. In der Innenstadt dann stieß ich mit einem Gefühl, wie unter einer Tarnkappe zu wandeln, auf Folgen von Gewalt und Hass, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Trat auf dem Jungfernstieg und der Poststraße über Myriaden von Glasscherben und sah auf den Spiegeln des Bleichenfleets und des Alsterfleets zerschmetterte Schaufensterpuppen und verdreckte Stoffe treiben. Hier und anderswo musste sich Grauenhaftes zugetragen haben, und obwohl kein Laut in der Luft lag, die Stimmung der Passanten eher gedrückt und die Täterschaft der Nacht wie entflohen war, brannte sich mir angesichts der Verwüstungen jäh eine Erkenntnis so tief ins Hirn ein, dass ich sie wie einen physischen Schlag empfand: »Wer das getan hat, der ist zu allem fähig!«

Ralph Giordano, geboren 1923 in Hamburg, ist Journalist, Schriftsteller und Regisseur. Aus: Erinnerungen eines Davongekommenen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007

Berlin
Am Morgen jenes 10. November hatten sich die Nachrichten überschlagen. Auf den Straßen Berlins war die Hölle los. Mit Äxten, Beilen und Knüppeln hatten SA-Männer in der Nacht des 9. November die Fensterscheiben der durch ihre Kennzeichnung leicht auszumachenden jüdischen Geschäfte eingeschlagen und eine heillose Zerstörung angerichtet. Auf dem Kurfürstendamm lagen besudelte Schaufensterpuppen inmitten von Glasscherben. Aus leeren Fensterhöhlen flatterten Kleiderfetzen im Wind. Plünderer hatten das Bild der Zerstörung und der Gewalt noch vervollständigt. In den Geschäften lagen herausgerissene Schubladen, verstreute Wäschestücke, zertrümmerte Möbel, zerschlagenes, zertretenes Porzellan, verbeulte Hüte. Dichte Rauchschwaden hingen über der Fasanenstraße, dort, wo die Synagoge stand. Wir wagten uns nicht näher heran. Wir wussten schon, dass alle Synagogen von der »spontanen« Volkswut, wie es im Rundfunk geheißen hatte, angezündet und niedergebrannt worden waren. Polizei und Feuerwehr hatten untätig dabei gestanden und sich darauf beschränkt, die Schaulustigen von den Brand stellen fernzuhalten. (...) Meine Eltern blickten wie versteinert auf das angerichtete Unheil.

Inge Deutschkron, geboren 1922 in Finsterwalde, ist Journalistin und Autorin. Aus: Ich trug den gelben Stern, dtv, München 1985
München
In der Privatwohnung der Familie Schwarz herrschte große Aufregung. Herr Schwarz, ein über 70-jähriger alter Herr, hatte schon am Morgen den Besuch von SA-Leuten gehabt, die ihn mit der Pistole bedrohten. Das Betreten seines Geschäftes war ihm und seinen sämtlichen Familienangehörigen verboten worden. Was noch folgen würde, wusste man nicht. Frau Schwarz und ihr Sohn empfingen uns. Von ihnen erfuhr ich, dass im ganzen Reich die jüdischen Geschäfte angegriffen, ihre Schaufenster zerschlagen, ihre Waren zum Teil vernichtet und geraubt worden waren. Die Münchener Synagoge war schon früher, angeblich aus irgendwelchen bautechnischen Gründen, abgerissen worden und so dem Brand und der Zerstörung, der alle Synagogen im Reich anheimfielen, entgangen. (...) Wir gingen durch die Münchener Straßen, in denen sich die Menge drängte. Immer wieder trafen wir auf Menschenansammlungen vor jüdischen Läden, wo man sich das Zerstörungswerk ansehen wollte, oder vor anfangs vergessenen, deren Scheiben man jetzt zertrümmerte. Die Menge verhielt sich ruhig, auch den Gesichtern war ganz selten einmal anzumerken, was ihre Besitzer dachten. Hier und da fielen Worte der Schadenfreude, aber auch solche des Abscheus konnte man gelegentlich hören. Doch was ging dort gegenüber vor? »Komm schnell«, rief ein halbwüchsiger Bursche einem Kameraden zu, »dort verhaften sie wieder einen Juden!« Ich sah ein Polizeiauto, zu dem ein Mensch von mehreren Beamten geführt wurde. Ich zog euch schnell fort. Stundenlang sind wir so zu viert durch die Straßen gelaufen; wie in einen Hexensabbath versetzt kam ich mir vor. Von dem Stand eines Zeitungsverkäufers leuchtete in di-cken roten Buchstaben die Ankündigung eines Romans herüber: »Menschen, die gejagt werden«, hieß der verheißungsvolle Titel. Menschen, die gejagt werden – was sind wir anderes? Wann werden wir unseren Jägern in die Hände fallen? So gingen meine Gedanken.

Else R. Behrend-Rosenfeld (1891-1970) war promovierte Historikerin und wandte sich als Sozialarbeiterin unter anderem der Betreuung von weiblichen Strafgefangenen zu. Während der NS-Zeit engagierte sie sich besonders in der »Heimanlage für Juden Berg am Laim«. Aus: Ich stand nicht allein. Leben einer Jüdin in Deutschland 1933-1944, C.H. Beck, München 1988
Breslau
Es hieß damals in den Zeitungen, dass eine »spontane Volkswut« ausgebrochen sei Diese »Volkswut« äußerte sich, indem sämtliche Synagogen niedergebrannt, jüdische Geschäfte zerstört und geplündert wurden. Es war leicht zu erkennen, ob ein Geschäft einem Juden gehörte. Auf dem Schaufenster musste der Name des Inhabers in Buchstaben von bestimmter Größe stehen, daneben der Judenstern. Es ging noch weiter: Das »erzürnte Volk« drang in Privatwohnungen ein, demolierte sie, und Tausende von Menschen wurden verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Mein Vater wurde damals nicht verhaftet. Das war der Courage unseres guten Freundes Walter Mathias Mehne zu verdanken. Er war Geigenbauer, kein Jude, und kümmerte sich einfach nicht darum, dass die Straßen von Gestapoleuten wimmelten, die nach Juden suchten. Er kam zu uns in die Wohnung, holte meinen Vater ab und fuhr den ganzen Tag mit ihm in seinem Mercedes herum. Er hätte leicht angehalten werden und sich in einer sehr unangenehmen und gefährlichen Situation befinden können. Der Mut eines Mannes wie Mehne ist umso beachtenswerter, als er in Breslau sehr bekannt war.
Anita Lasker-Wallfisch, geboren 1925 in Breslau, Cellistin im Londoner English Chamber Orchestra, gehörte zum »Mädchenorchester« in Auschwitz. Aus: Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz. Erinnerungen, Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 2000

Lübeck
Es liegt etwas in der Luft (...). Als ich meine Freundin abends nach Hause bringe, sagt sie, ich sähe Gespenster. Während der Nacht vom 9. zum 10. November werden alle jüdischen Geschäfte und Wohnungen demoliert. Meinen Bruder verhaftet man auf der Straße. Mich selbst trifft die Gestapo nicht im Hause an. Meine Schwester gibt mir hundert Mark zur Flucht. Während ich noch bei ihr bin, höre ich Stiefel die Treppe hinaufpoltern. Schnell laufe ich zwei Treppen höher auf den Boden. »Ist Josef Katz hier?«, herrscht der Gestapo-Mann meine Schwester an. »Nein, er ist nicht hier«, höre ich meine Schwester antworten. Der Gestapo-Mann sagt, er hätte Befehl, eine Haussuchung vorzunehmen. Er reißt alle Schubladen auf und durchsucht sie, wobei er alles durcheinanderschmeißt. Mein Sparkassenbuch und das Bargeld meiner Mutter nimmt er mit. Meine Schwester fragt ihn, ob er einen Ausweis habe. »Halts Maul«, sagt er, »sonst knall ich dir eine.« Nachdem der Gestapo-Mann die Wohnung verlassen hat, verschwinde auch ich. Mein Ziel ist Hamburg. An der Sperre des Lübecker Bahn- hofs sehe ich Polizeibeamte stehen, die jeden durch die Sperre Gehenden kritisch anschauen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mit der Straßenbahn nach Schwartau zu fahren.

Josef Katz (1918-1990) hat mehrere Vernichtungslager in Lettland überlebt und emigrierte 1946 in die USA. Aus: Erinnerungen eines Überlebenden, Neuer Malik-Verlag, Kiel 1988

Köln
Am 9. November hatten wir Besuch zum Abendessen: einen deutschen Nichtjuden, der mit einer Amerikanerin verheiratet war. Er verabschiedete sich ungefähr um elf Uhr. Als wir ihn zur Haustür begleiteten, sahen wir, dass die Straße sehr belebt war. Es fuhren viele Lastwagen mit Männern in Naziuniform vorüber, und gegen-über, im Haus der Presse, war ein ständiges Kommen und Gehen. Unser Freund bot sich an, bei uns zu bleiben, für den Fall, dass wir Schutz brauchten, aber mein Mann hielt dies nicht für notwendig. Wir gingen nach oben zurück und räumten Obst und Zigaretten vom Tisch. Da hörten wir in der Nähe Schüsse fallen und sahen in der Entfernung Feuer brennen. Um dreiviertel zwölf schellte es an unserer Wohnungstür. Es war Frau B., die Frau des Besitzers eines jüdischen Restaurants, das sich einige Häuser von dem unsrigen entfernt befand. Sie suchte Behandlung und Zuflucht. In unklaren Sätzen berichtete sie, dass Nazihorden in ihr Haus eingedrungen waren. Ihr Mann hatte die Flucht ergriffen. Die uniformierten Männer hatten ihre große Kaffeemaschine umgestürzt; diese war auf sie gefallen, und sie war für einen Augenblick unter der Maschine zusammengebrochen. Als es ihr mithilfe ihrer Angestellten gelungen war aufzustehen, hatte sie Wunden auf der Stirn, und mehrere Zähne waren ausgebrochen. (...) Sie flehte uns an, sie bei uns zu behalten.

N.N. Aus: Wir haben es gesehen. Augenzeugenberichte über Terror und Judenverfolgung im Dritten Reich, redigiert und hrsg. von Gerhard Schoenberner, Rütten & Loening, Hamburg 1962

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