von Matilda Jordanova-Duda
Schon bald nach der Einreise ging Oleg Gerbers Sohn in die erste Klasse. Damals konnte der 6-Jährige kein Wort Deutsch. »In der Zeit, als die anderen Kinder Schön- und Rechtschreibung lernten, musste er sich erst einmal die Sprache beibringen«, sagt der Vater. Jetzt spreche der Junge ganz ordentlich, aber mit dem Schriftlichen gebe es noch Schwierigkeiten. Der Förderunterricht an der Schule habe jedenfalls nicht ausgereicht. Als es nach der vierten Klasse darum ging, ob der Sohn den Sprung aufs Gymnasium schaffe, ließen die Eltern einen Intelligenz-Test machen. »Der Test zeigte, dass er beim logischen Denken und mathematischen Verständnis den Gleichaltrigen sogar um vier Jahre voraus ist«, sagt Gerber.
In Mathematik machte sich der Junge auch auf dem Gymnasium weiterhin gut. Aber seine Diktate und Aufsätze waren voller Rechtschreibfehler und obendrein schwer lesbar. Die Lehrer warnten die Eltern, dass ihr Sohn nach der Probezeit auf die Realschule müsse. Eine solche Zurücksetzung wäre für die russisch-jüdische Familie aus Düsseldorf ein herber Schlag.
Mit diesem Problem ist Oleg Gerber zur Beratung ins Integrationszentrum »Phönix« nach Köln gekommen. »Phönix«, als Selbsthilfeorganisation von und für russischsprachige Einwanderer gegründet, ist seit kurzem Initiator und Teil eines Netzwerks für Eltern. Dessen Ziel ist es, Mütter und Väter aus der gesamten Bundesrepublik mit jeder Erziehungs- oder Bildungsfrage an eine kompetente Stelle zu vermitteln: ob vor Ort, per Telefon-Hotline oder über das Internet. Dafür holt das Netzwerk russischsprachige Medien mit ins Boot, die eine Erziehungsrubrik oder ein Online-Forum betreiben wollen.
Vorbild und Know-how-Vermittler sind die spanischen »Padres de familia«. Untersuchungen der Uni Münster haben gezeigt, dass unter den Nachfahren der ehemaligen Arbeitsmigranten die spanisch- stämmigen Schüler die besten Abschlüsse erreichen: Fast 70 Prozent erlangen die Fachoberschulreife und höhere Bildungsgrade. Bereits in den 60er Jahren hatten sich die damaligen »Gastarbeiter« zusammengetan. Bildung war das zentrale Thema, das über ideologische und religiöse Grenzen hinweg einte.
Gut vorbereitete Eltern, die ihre Positionen den Lehrern gegenüber selbstbewusst vertreten, sind das Ideal der »Padres de familia«. Die bundesweit mehr als 100 Vereine organisieren regelmäßig Infoabende und Wochenendseminare und geben Materialien zu Fragen der bikulturellen Erziehung heraus. Die Mütter und Väter sollen gewappnet sein gegen Scheinargumente wie »Das geschieht nur zum Besten Ihres Kindes, es darf nicht überfordert werden«. Denn mit dieser Begründung werden Migrantenkinder oft auf Sonder- oder Hauptschulen geschickt. Die Spanische Weiterbildungsakademie wird nun russischsprachige Berater und Multiplikatoren quali- fizieren.
Die Idee zu dem Netzwerk wurde gewissermaßen aus der Not geboren. Obwohl es eigentlich keine Erziehungs- und Bildungssprechstunde gab, erzählten viele Menschen, die die Beratungsstelle des Integrationszentrums aufsuchten, von der Schwierigkeit, ihre Kinder zum Lernen zu motivieren. »Du sagst dem Jungen, jetzt setz dich hin und mache Hausaufgaben – und er höhnt: Mama, du hast zwar studiert, aber was hat es dir gebracht? Jetzt gehst du putzen«, klagten Ein-Euro-Jobberinnen mit Hochschuldiplom. Verunsicherte Eltern fragten, wo man eine vernünftige Berufsberatung bekommen könne. Andere machten sich Sorgen, dass das Russisch der Kinder verkümmere und sie in der Muttersprache Analphabeten bleiben würden.
Zwar gebe es jede Menge Institutionen, die mit Rat und Tat helfen. Doch die Einwanderer erführen nur per Zufall davon, sagt »Phönix«-Geschäftsführer Viktor Ostrowski. Auch die Experten wüssten manchmal nicht, was ihre Kollegen machen. Das Netzwerk koordiniert die bereits bestehenden Angebote. Oleg Gerber beispielsweise wird zu einer Spezialistin für Schulschwierigkeiten beim Jugendmigrationsdienst vermittelt.
Auch in der Synagogen-Gemeinde der Domstadt macht man sich Gedanken über pädagogische Angebote für Kinder und Jugendliche. Svetlana Furer ist seit kurzem Leiterin des Jugendzentrums. Vorgefunden habe sie nur etwa 35 regelmäßige Besucher – und das trotz der stark gewachsenen Gemeinde. Als Erstes will sie das Angebot erweitern: »Eltern, die wie ich in der Sowjetunion aufgewachsen sind, finden es wichtig, dass das Kind in der Freizeit etwas lernt: Schach, Tanz, ein Instrument.« Ein Mitglied des Netzwerks ist die Klezmer-Akademie, die vom Geiger Igor Eppstein in Köln gegründet wurde. Da biete sich geradezu an, etwas gemeinsam zu unternehmen, so die ehemalige Regisseurin Furer. Vor allem müsse man die Eltern erreichen, von denen viele sich zwar als Juden fühlten, doch nicht in die Synagoge kämen. Einige wohnten sogar in der Nähe, gingen aber ins weit entfernte Begegnungszentrum für Juden aus der GUS in Köln-Porz.
So wie Tanja. Mindestens einmal in der Woche kommt sie nach Porz: Dann trifft sich dort die Selbsthilfegruppe der alleinerziehenden Mütter. Die Frauen tauschen sich aus oder wechseln sich bei der Betreuung ab, damit jede Mutter einmal Zeit für sich hat. Tanja ist früh verwitwet, die Verantwortung für drei minderjährige Kinder liegt nun ganz auf ihren Schultern. Es sei schwierig, die Kinder hier zu erziehen, sagt sie: Zu oft seien sie es, die den Eltern etwas beibrächten, seien es die deutschen Wörter oder die hier üblichen Verhaltensregeln. Diese Rollenumkehrung mache sowohl den Erwachsenen als auch den Jugendlichen zu schaffen, bestätigt Psychologin Stella Shcherbatova vom Begegnungszentrum.
Shcherbatova organisiert gerade eine Selbsthilfegruppe für Eltern mit hyperaktivem Nachwuchs. Durch das Elternnetzwerk erhofft sie sich mehr Zulauf. »Zappelphilipp«-Treffs gibt es reichlich, doch gehen die Einwanderer kaum hin. »Wenn sie sich nicht so gut auf Deutsch ausdrücken können, werden sie eher noch belastet als erleichtert.«
Die oft gegebene Empfehlung: »Integrieren Sie sich, dann haben die Kinder keine Probleme« sei zu kurz gegriffen, meint die Psychologin. Vor einiger Zeit hatte sie eine solche »Musterfamilie« in der Beratung: Mutter und Vater hatten beide Arbeit und sprachen perfekt Deutsch. Das Kind litt jedoch unter Neurosen und brachte schlechte Noten nach Hause: ein Schock für die hochqualifizierten Eltern. Shcherbatova meint dazu: Als das Kind klein war, stand eben die Integration im Vordergrund. Die Eltern paukten Deutsch, suchten Jobs und eine Wohnung: Für Erziehung sei da leider wenig Zeit übrig geblieben.