von Katharina
Schmidt-Hirschfelder
Für Bent Lexner ist es ein Skandal. Als am vergangenen Donnerstag bekannt wurde, dass das dänische Parlament möglicherweise das Beschneidungsalter von Jungen auf 15 Jahre heraufsetzen will, schrillten beim Oberrabbiner von Dänemark die Alarmglocken.
Seit Jahren schon stehe das Thema immer wieder auf der Tagesordnung, sagt Lexner, bisher allerdings ohne Folgen. Doch diesmal scheint es den Beschneidungsgegnern ernst zu sein. Die staatliche Kinderschutzorganisation Børneraadet, zu Deutsch Kinderrat, argumentiert, Beschneidung von Jungen sei der Beschneidung von Mädchen gesetzlich gleichzustellen, da der Eingriff dem Kind irrepa-
rablen Schaden zufüge, ohne dass es sich dagegen wehren könne. Die Beschneidung bei Mädchen ist in Dänemark seit fünf Jahren per Gesetz verboten.
Den »Vergleich zwischen Beschneidung und Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsorgane« hält Rabbiner Lexner, der auch der offizielle Mohel der Gemeinde ist, für »kompletten Unsinn«. Das sieht der dänische Ethikrat anders. Er unterstützt den Vorschlag der Kinderschutzorganisation. Um die Anhörung des Vorschlages vor dem dänischen Parlament zu stoppen, kommt es nun auf das Votum des parlamentarischen medizinischen Ausschusses an. Für Oberrabbiner Lexner eine Zitterpartie. »Noch diskutieren sie nur«, versucht er seine etwa 2.400 Gemeindemitglieder zu beruhigen. Von rund 7.000 heute in Dänemark lebenden Juden rufen etwa 95 Prozent Mohel Lexner an, um ihre neugeborenen Söhne von ihm beschneiden zu lassen.
»Gut möglich, dass es gar nicht erst zur Anhörung kommt«, hofft Lexner. Und wenn doch? Der Oberrabbiner schwankt zwischen Hoffnung und Verzweiflung. »Sollte das dänische Parlament uns per Gesetz kriminalisieren, indem es die Brit Mila verbietet, dann werden wir uns selbstverständlich an das Gesetz halten«, kün- digt Lexner an. »Und unsere religiöse Freiheit woanders ausüben«, fügt er nach einer Pause hinzu. Zum Beispiel in Deutschland, Israel oder Schweden.
Ein Szenario, dass sich Lena Posner-Körösi nur schwer vorstellen kann. Die Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Schweden ist empört, dass diese Frage im Nachbarland überhaupt diskutiert wird. Aber seit sich die bürgerliche Minderheitsregierung unter Anders Fogh Rasmussen von der rechtspopulistischen Dansk Folkeparti, der Dänischen Volkspartei, tolerieren lässt, herrsche ein aufgeheiztes nationalistisches Klima in Dänemark, sagt Pos- ner-Körösi. »Der eigentliche Skandal ist die antidemokratische Haltung. In Europa reden alle immer gern von multikultureller Gesellschaft und gegenseitigem Respekt.« Genau den vermisst die schwedische Zentralratsvorsitzende derzeit in Dänemark. »Und dabei sind ja nicht nur Juden davon betroffen. Der Vorschlag richtet sich vor allem gegen die muslimische Bevölkerung in Dänemark«, vermutet Posner-Körösi.
Auch in Deutschland wird die Entwicklung mit Sorge verfolgt. Liberale und orthodoxe Rabbiner sind sich in ihrer Ablehnung der dänischen Pläne und Solida-
rität mit den Juden im Nachbarland einig. Der Düsseldorfer Gemeinderabbiner Julian-Chaim Soussan erklärt für die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD): »Jede medizinische Argumentation gegen die Beschneidungen von Jungen in den ersten 30 Tagen nach der Geburt ist nicht schlüssig. Und keinesfalls darf mit solchen Argumenten das Grundrecht auf freie Glaubensausübung infrage gestellt werden. Die Beschneidung ist seit 3.400 Jahren untrennbarer Bestandteil unseres Glaubens. Es erschüttert uns, dass Juden nur gut sechs Jahrzehnte nach der Schoa in einem westeuropäischen Staat ernsthaft darüber nachdenken müssen, ihre Heimat zu verlassen, um ihr Judentum frei praktizieren zu können.«
Niedersachsens Landesrabbiner Jonah Sievers von der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK) äußert sich ähnlich: »Es wäre unerträglich, wenn Juden wieder in ein anderes Land ziehen müssten, um ihre Religion ungestört ausüben zu können. In dieser Frage gibt es zwischen ORD und ARK keinen Dissens.« Sievers weist auch darauf hin, dass die von den dänischen Kinderschützern gezogene Gleichsetzung von männlicher und weiblicher Beschneidung haltlos sei. »Eine Verknüpfung der Verstümmelung junger Mädchen und der Brit Mila sind, vorsichtig formuliert, abstrus«, sagt Sievers. »Die Brit Mila wird schon seit Jahrtausenden praktiziert und ist unabänderlicher Bestandteil des Judentums und jüdischer Identität.«
Aber nicht nur in Dänemark, sondern auch in Schweden werde über Beschneidung diskutiert, berichtet Lena Posner-Körösi. »Wir hatten hier in Schweden diese Diskussion schon vor zwei Jahren.« Des- halb könne sie die dänischen Sorgen verstehen. Inzwischen habe man aber in Schweden eine Lösung ausgehandelt, mit der alle zufrieden seien. Krankenschwester plus Betäubung, lautet dieser Kompromiss. Er sieht vor, dass bei einer Brit Mila neben dem Mohel immer auch eine ausgebildete Krankenschwester anwesend sein muss. Das funktioniere schon seit zwei Jahren ausgezeichnet. Die Gefahr, dass das Thema wieder nach Schweden herüberschwappe, hält Posner-Körösi daher für gering.
Die Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft in Dänemark empfindet sich als selbstverständlichen Bestandteil der Gesellschaft. Hier gibt es die älteste jüdische Gemeinde in Nordeuropa. Sollte die Beschneidung kriminalisiert werden, kann sich Oberrabbiner Bent Lexner neben Brit-Mila-Tourismus nach Schweden auch noch ein anderes Szenario vorstellen: »Auswanderung. Das wäre das Ende unserer 300jährigen Geschichte in Dänemark.«