von Lisa Borgemeister
Eines Abends klingelt das Telefon. Der Rektor der nahe gelegenen Grundschule ist am Apparat. Er zeigt sich besorgt über das Verhalten des neunjährigen Sohnes. Der Schüler verhalte sich auffällig, sei aggressiv anderen Kindern gegenüber und wirke insgesamt sehr unruhig. Für die Mutter kommt diese Nachricht nicht wirklich überraschend. Auch zu Hause macht ihr Sohn seit einigen Wochen einen depressiven und zurückgezogenen Eindruck. Der Lehrer rät ihr, sich ans örtliche Jugendamt zu wenden. Nach weniger als zehn Tagen hat die Frankfurter Familie über diesen Kontakt einen ersten Gesprächstermin beim »Jüdischen Psychotherapeutischen Beratungszentrum für Kinder, Jugendliche und Erwachsene«.
Ein fiktiver, aber doch sehr typischer Fall: Häufig sind es die Schulprobleme der Kinder, die Familien den Kontakt zur Beratungsstelle im Frankfurter Stadtteil Westend suchen lassen. »Weitere Ursachen sind Trennungsprobleme, Migrationsthemen und Antisemitismus in Schulen«, berichtet Zentrumsleiter Detlef Michaelis. Seine Mitarbeiter lassen sich jeden Fall individuell schildern und suchen dann zunächst das Einzelgespräch mit dem Kind. Manchmal werden auch die Schulen mit in den Prozess einbezogen. Alles unter ärztlicher Schweigepflicht.
Vor zehn Jahren: Frankfurt am Main 1997. Die Erziehungsberatungsstelle der jüdischen Gemeinde muss aus finanziellen Gründen schließen. Ein paar Mitarbeiter gründen einen Verein und kämpfen für die Neugründung einer entsprechenden Einrichtung. Im Mai 2002 erreichen sie schließlich ihr Ziel: Das »Jüdische Psychotherapeutische Beratungszentrum für Kinder, Jugendliche und Erwachsene« wird eröffnet. »Es war ein großer Kraftakt«, erin- nert sich Detlef Michaelis. »Das Land hatte Mittel gestrichen, und die Stadt konnte die Finanzlücke nicht kompensieren.« Heute wird die Arbeit unter dem Dach eines Fördervereins vom Land Hessen und der Stadt Frankfurt sowie durch Spenden finanziert.
Die Notwendigkeit einer Erziehungsberatungsstelle trat damals bereits in den ersten acht Monaten des Bestehens deutlich zutage: Mehr als siebzig Anmeldungen verzeichnete das Zentrum in diesem Zeitraum. Auch gegenwärtig können sich die Mitarbeiter nicht über mangelnde Arbeit beklagen. Rund 200 Familien werden hier pro Jahr betreut und versorgt. Gut die Hälfte von ihnen sucht aus eigenen Stücken den Kontakt, die restlichen Familien vermitteln Jugendamt, Schulen und Kindergärten. Das niedrigschwellige Angebot ist für alle Ratsuchenden kostenlos.
Das Beratungszentrum versteht sich nach Angaben des Leiters als Anlaufstelle – zum einen für die jüdische Klientel aus der Region und zum anderen für alle Familien aus dem Frankfurter Stadtteil Westend. In drei von vier Fällen ist laut Michaelis mindestens ein Elternteil jüdisch. »Der Anmeldegrund sollte immer ein Kind sein«, sagt er und verweist auf die Aufgabe der Jugendhilfe. Bei tief greifenden Problemen vermitteln die Mitarbeiter ihren Klienten weiter zu einem Psychotherapeuten. Nur in seltenen Fällen leistet das Team diese Arbeit selbst. »Wenn jemand nur hebräisch spricht, ist es schwer, einen Therapeuten in der Region zu finden«, erklärt Michaelis. In solchen Einzelfällen verbleiben die Hilfesuchenden zur Therapie im Zentrum.
Jeden Montagvormittag kommen die Team-Mitarbeiter in Detlev Michaelis’ Büro zur Beratung zusammen. Neuanmeldungen werden verteilt, organisatorische Fragen geklärt und aktuelle Fragestellungen diskutiert. Und auch jedes Erstgespräch ist Thema auf der wöchentlichen Sitzung. Das siebenköpfige Team setzt sich aus vier festen und drei freien Mitarbeitern zusammen. Jüdische und nichtjüdische Experten arbeiten mit deutschen und nichtdeutschen Fachleuten Hand in Hand. Mit dabei sind Kindertherapeuten, Psychoanalytiker, Familientherapeuten und ein Internist, der bei medizinischen Fragestellungen Ansprechpartner ist.
»Uns geht es nicht um die reine Betreuung der Klientel, sondern wir versuchen aus verschiedenen Blickwinkeln zu verstehen, was passiert ist und was heute passiert«, sagt Psychologe Kurt Grünberg. Nach seiner Einschätzung lassen sich auf diese Weise häufig historische und soziale Muster beobachten. Sie zu erkennen, könne gerade bei der Arbeit mit jüdischen Familien oft sehr hilfreich sein, sagt Grünberg. Und weil auch sprachliche Barrieren zum Alltag gehören, bietet das Zentrum seine Beratung auf Englisch, Hebräisch und Russisch an.
Dass das jüdische Beratungszentrum in den Räumen des Sigmund-Freud-Instituts angesiedelt ist, scheint nur auf den ersten Blick wie ein Zufall. Schon die erste jüdische Erziehungsberatungsstelle in Frankfurt war in den 60er Jahren dort zu Hause, die psychoanalytische Sicht auf Probleme ist beiden Einrichtungen gemein. Die zwei Institutionen arbeiten eng zusammen, der Austausch ist durch einen Kooperationsvertrag besiegelt. Kurt Grünberg bildet eine Art aktives Bindeglied zwischen den beiden Einrichtungen. »Es ist eine gegenseitige Befruchtung«, erklärt der Psychotherapeut, der sich auf den Umgang mit Holocaust-Überlebenden und deren psychosoziale Spätfolgen spezialisiert hat. Es gehe darum, gewisse Themenbereiche gezielt zu erforschen und die Ergebnisse effektiv anzuwenden. Denn auch dieses Themenfeld ist Teil der Beratungsstelle: Neben der Kinder- und Jugendhilfe haben sich die Mitarbeiter des Frankfurter Zentrums auf die Beratung von Schoa-Überlebenden spezialisiert. »Die Scheu ist noch sehr groß«, berichtet der Zentrumsleiter, »aber einige Betroffene sind schon zum Einzelgespräch zu uns gekommen.«
Das Jüdische Beratungszentrum Frankfurt, Myliusstraße 20, ist montags bis donnerstags telefonisch erreichbar: 069/ 71 91 52 90. Dienstags und donnerstags gibt es von 10 bis 11 Uhr eine offene Sprechstunde.