von Erica Fischer
Raissa Kruk hat zwei schwere Tüten in ihre Wohnung in Berlin-Wilmersdorf geschleppt. »Mögen Sie Pelmeni?« Kaum sitze ich im blitzblanken, in blau gehaltenen Wohnzimmer, füllt sich der Couchtisch: Kaffee, in Schokolade getunkte Pflaumen in einer goldenen Bonbonniere, Aprikosen groß wie Pfirsiche, russischer Kuchen.
»Diese Aprikosen erinnern mich an meine Heimat«, sagt Raissa Kruk mit einem selbstironischen Lächeln. »Die Hälfte meines Lebens habe ich hier verbracht, die andere Hälfte dort, und immer noch kaufe ich gern im russischen Laden ein!«
Die Heimat, das ist Moldawien. Mehr an Sentimentalität erlaubt sich Raissa nicht. Seit sie die Sowjetunion 1978 verlassen hat, ist sie nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Neugierig wäre sie schon, doch die heute unabhängige Republik Moldau ist das ärmste Land Europas, was sie dort vorfinden würde, könnte ihr die Erinnerung an eine schöne Kindheit zerstören.
Es ist die Erinnerung an die Kleinstadt Orgeew, wo etwa die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war, an üppige Wälder, Flüsse und Seen. In Orgeew wuchs Raissa Handelmann bis zu ihrem siebten Lebensjahr bei den Großeltern auf, denn ihr Vater wurde nach Sibirien verbannt und die Mutter folgte ihm. Die gläubige Großmutter sprach jiddisch, ging mit der Enkelin in die Synagoge und führte einen koscheren Haushalt. Als Raissa in die erste Klasse kam, flüsterte ihr eine Mitschülerin ins Ohr: »Man sagt, daß unsere Lehrerin Juden nicht mag.« »Wie weiß man das?«, fragte Raissa. Das Mädchen wußte Bescheid: »Angeblich kann man es am Namen erkennen.«
Raissa war eine gute Schülerin. Daß die jüdischen Kinder in der Schule besser sein mußten als alle anderen, hatten die Eltern ihren Kindern früh vermittelt. So kam es, daß Raissa zum Schulabschluß als einzige in Orgeew eine goldene Medaille bekommen sollte. Um ihre Schülerin zu schützen (und vielleicht auch sich selbst), setzte die (jüdische) Lehrerin Raissas Arbeit um eine Note hinunter. So mußte ihr Aufsatz nicht in die Hauptstadt geschickt werden, und silberne Medaillen gab es mehrere, da würde die jüdische Schülerin nicht auffallen. Es war das erste Mal, daß Raissa eine Diskriminierung als Jüdin bewußt erlebte.
Danach studierte sie in der Hauptstadt Chisinau, dem damaligen Kischinew, an der Universität Mathematik und Physik. Sie hatte Glück. Unter den 1966 zu diesem Studium zugelassenen 50 Studierenden waren 16 jüdisch, nach dem Sechstagekrieg waren es nur zwei. Noch während ihres Studiums heiratete Raissa den angehenden Maschinenbauingenieur Naum Kruk und zog zu ihm nach Odessa.
Eigentlich wollte sie in die Forschung gehen, doch um zu leben, mußte sie rasch eine Stelle finden. Nicht leicht für eine Jüdin. Doch weil der erste Parteisekretär des Bezirks Kruk hieß und man sie für eine Verwandte hielt, kam sie als Physik- und Astronomielehrerin unter. Nach der Geburt ihrer Tochter zog das Paar nach Chisinau, wo Raissas Eltern seit einigen Jahren lebten. Auch dort fand sie eine Stelle als Lehrerin, wurde sich aber zunehmend bewußt, wie sehr es ihr widerstrebte, den Schülern »den ideologischen Kram« einzutrichtern, den man politische Bildung nannte.
Schon bald nach der Heirat hatte ihr Mann von Emigration gesprochen. Das Paar nahm an den Treffen einer geheimen Gruppe teil, in der Hebräisch und die Geschichte Israels gelernt wurde. Den Ausschlag gab schließlich Raissas Bewerbung als Physikerin an einem Institut. Als der Personalleiter ihre Papiere zu sehen verlangte, sagte sie: »Ich weiß, was Sie meinen. Ich kann es Ihnen gleich sagen: Ich bin Jüdin.« »Sie haben recht«, antwortete der Mann, »Ihre Leute verlassen das Land.« Raissa ging nach Hause und sagte zu Naum: »Jetzt will ich gehen.«
Nachdem sie ihren Ausreiseantrag gestellt hatten, erhielten beide Kruks die Kündigung, ihr Antrag jedoch wurde abgelehnt. Es begann ein mehrjähriger Kampf um die Ausreise und das blanke Überleben. Im November 1978 war es endlich so weit. Mit einem Visum für Israel kam die Familie in Wien an. Man entschied sich für Berlin, wo Naum Verwandte hatte.
Von da an ging alles glatt. Raissa war eine zielstrebige schöne Frau mit dichtem Lockenhaar und strahlend grünen Augen, die verstand, daß sie so schnell wie möglich Deutsch lernen mußte, um weiterzukommen. Ihr Mann, der schon in der Schule Deutsch gelernt hatte, fand nach einem halben Jahr eine Stelle als Maschinenbauingenieur. Und bereits nach einem Dreivierteljahreskurs am Goethe-Institut begann Raissa an einer Oberschule in Berlin-Tempelhof Physik und Mathematik zu unterrichten. Bei den Schülern war sie sehr beliebt und hatte nie Probleme mit der Disziplin. War sie strenger als die anderen Lehrer? »Nein, ich habe sie einfach geliebt.«
Erst als Raissa Kruk, von Heinz Galinski eingeladen, 1989 begann, an der jüdischen Grundschule neben ihrer Haupttätigkeit die fünfte Klasse in Technik zu unterrichten, begannen die Schwierigkeiten. Ihr Versuch, dem damals herrschenden Chaos an der Schule entgegenzuwirken, kam nicht gut an. Plötzlich fand man ihre Unterlagen nicht mehr und konnte sie nicht bezahlen. Raissa gab auf.
So enttäuscht war sie damals, daß sie sogar einen Austritt aus der Jüdischen Gemeinde erwog. Statt dessen engagierte sie sich politisch. 1993 wurde sie als Kandidatin der Demokratischen Liste und als eine von wenigen Zuwanderern in die Repräsentantenversammlung gewählt und übernahm den Vorsitz des Schulausschusses.
Im selben Jahr wurde die Jüdische Oberschule eröffnet. Man benötigte eine Person, die sich mit den Belangen der Zuwanderer auskannte. Kruk wurde als stellvertretende Leiterin der Oberschule vorgeschlagen und von ihrer Unterrichtstätigkeit in Tempelhof beurlaubt.
Diese Stelle war eine einmalige Chance für eine Lehrerin, einige ihrer Träume zu verwirklichen. Es war, sagt Kruk, »eine sehr große Ehre, ein Geschenk Gottes, daß ich diejenige war, die für diese Aufgabe ausgewählt wurde«. Fünfzig Jahre nach der Schließung der Jüdischen Oberschule durch die Nazis konnte sie für jüdische Schüler ein Zuhause schaffen, einen Ort, an dem Lernen Freude macht.
Mit Verve ging Kruk daran, zwischen den Interessen von Lehrern und Schülern unterschiedlicher Herkunft, zwischen dem Senat und der jüdischen Gemeinde zu vermitteln. In der Einheitsgemeinde prallten die Erwartungen aufeinander, den einen war die Schule zu religiös, den anderen zu wenig. Die christlichen Eltern hatten mehr Vertrauen. »Oma hat gesagt, die jüdischen Schulen waren die besten«, sagten die einen, »wegen der Vergangenheit soll mein Kind mit jüdischen Kindern aufwachsen«, die anderen. Genau darum ging es Raissa: Die Schule sollte offen für alle sein.
Doch in der Gemeinde kam es zu Konflikten um ihre Person, sie übe zu viel politische Macht aus, meinten manche, während die große Gruppe der Zuwanderer stolz auf sie war. Wenigstens eine von uns, die es geschafft hat, sagten sie.
Der Druck war zu groß. 1998 erkrankte Kruk und mußte für ein Jahr ausscheiden. Als sie zurückkehrte, hatte der Gründungsdirektor die Schule verlassen. Für anderthalb Jahre übernahm sie die Leitung. Danach schrieb die Gemeinde die Stelle aus. Raissa Kruk bewarb sich, doch ihr wurde mitgeteilt, sie sei mit ihrer Qualifikation nicht befugt, in der Oberstufe zu unterrichten.
Immer noch ungläubig schüttelt Raissa den Kopf. Zusätzlich zu ihrem Studium in Chisinau hat sie in Berlin ein zweijähriges Referendariat gemacht, die zweite Staatsprüfung abgelegt, zweieinhalb Jahre an der Freien Universität berufsbegleitend Mathematik und weitere zwei Jahre Informatik studiert, 15 Jahre Schüler einer Oberschule in Physik und Mathematik unterrichtet, acht Jahre die Jüdische Oberschule aufgebaut und sie schließlich kommissarisch geleitet. Und nun soll sie nicht ausreichend qualifiziert sein! Die Ablehnung ihrer Bewerbung, so wurde ihr mitgeteilt, sei eine politische Entscheidung gewesen.
Die tiefe Kränkung zeigte Wirkung. Neue Krankheiten kamen hinzu. Nun litt Raissa auch an Depressionen, hohem Blutdruck, Herzbeschwerden, und schied aus gesundheitlichen Gründen aus dem Schuldienst aus.
Raissa Kruk geht ins Schlafzimmer und holt eine goldene Figurine, die dem Oskar nachgebildet ist. »Für Raissa Kruk, das Herz und die Seele«, ist auf dem Sockel eingraviert, eine Würdigung der Eltern ihrer Schüler, als sie im März 2004 die Jüdische Oberschule verließ. »Wenigstens habe ich einen Oscar bekommen, das hat nicht jede Schulleiterin.« Danach essen wir endlich die verlockend duftenden Pelmeni.