Kultur

Wem gehört die jüdische Kultur?

von Natan Sznaider

Gershom Scholem und Hannah Arendt sind dafür bekannt, dass ihre langjährige Freundschaft durch die Veröffentlichung von Arendts Eichmann in Jerusalem in die Brüche ging. Mangelnden Herzenstakt und fehlende Liebe zu den Juden hat Scholem ihr vorgeworfen. Es mag dieser scheinbar mangelnde Herzenstakt sein, der Arendt in den vergangenen Jahren zu einer neuen Heldin der post-zionistischen Linken in Israel kürte. Aber Arendt und Scholem waren sich näher, als man annimmt, und beide stehen für die neue jüdische Identität und Existenz nach der Schoa außerhalb Europas.
Deutschland, ja ganz Europa, war für beide keine Option mehr. Jüdisches Leben und Wirken verlagerte sich nach Israel und in die Vereinigten Staaten. Sowohl Arendt als auch Scholem hatten neue Modelle vor Augen, wie jüdische Tradition in der Moderne vermittelt werden sollte und wie sich ethnische Kultur in politischen Aktivismus übertragen ließe. Ihre Auseinandersetzungen gingen von einer tiefen Übereinstimmung bezüglich des Scheiterns der jüdischen Assimilation aus. Das heißt auch, dass für sie jüdisches Leben in Deutschland und Europa nach 1945 nicht mehr vorstellbar war. Beide versuchten den Raum zu erkunden, in dem Juden als Juden öffentlich und kulturell in einem größeren politischen Umfeld handeln konnten.
Dies waren nicht nur theoretische Fragen. Nach Kriegsende wirkten beide für die »Jewish Cultural Reconstruction«, eine in New York von dem Historiker Salo Baron ins Leben gerufene Organisation, die es sich zur Aufgabe machte, von den Nazis geplünderte Kulturschätze (vor allen Dingen Bücher und Kultgegenstände) aus Deutschland heraus entweder nach Jerusalem oder New York zu bringen.
Hannah Arendt war zunächst als Forschungsleiterin dafür verantwortlich, 1946 eine vorläufige Liste der jüdischen Kulturschätze in den von den Nazis besetzten Ländern zu erstellen. Diese Liste liest sich wie ein Inventar der zerstörten jüdischen Kultur Europas. Mit 3,5 Millionen Büchern und 5.000 Manuskripten aus mehr als 430 Bibliotheken, wirkt die Liste wie eine Landvermessung der verlorenen jüdischen Kultur Europas. Fast keine Sprache ist ausgelassen. Diese Liste diente als Grundlage für die Arbeit der Organisation. Durch sie wurde der Verlust an jüdischer Kultur sichtbar.
Arendt arbeitete eng mit Gershom Scholem zusammen, der als Vertreter der Hebräischen Universität in Jerusalem als Vizepräsident für diese Organisation wirkte. Das Zeugnis dieser Zusammenarbeit liegt im Scholem-Archiv in Jerusalem. Wie aus dem Briefwechsel zwischen Arendt und Scholem aus der direkten Nachkriegszeit hervorgeht, war die Konsequenz des Nazismus für beide, dass ein Europa mit Juden nicht mehr möglich sein werde. Gerade aus diesem Grund musste der kulturelle Bestand der europäischen Judenheit so schnell wie möglich in die USA oder nach Israel gebracht werden. Sie wollten vermeiden, dass dieser erblose Besitz entweder den Deutschen zugesprochen oder in die Länder, aus denen er geplündert wurde, zurückgeschickt würde. Der jüdische Kulturbesitz sollte eine neue Heimat finden.
Die Jewish Cultural Reconstruction setzte neue Akzente für jüdisches Denken und Handeln nach der Schoa. Im Briefwechsel von Arendt und Scholem werden nicht die großen Fragen des Zionismus oder die Banalität des Bösen diskutiert, sondern praktische Aufgaben des Versandes, der Verteilung der Bücher, der dadurch entstandenen Kosten, der Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden. Hier geht es um die kleine praktische Politik der Rettung des jüdischen Kulturbesitzes. Aber es geht auch um mehr.
Durch diese Tätigkeit bestimmen die Aktivisten der Jewish Cultural Reconstruction, wie das jüdische Volk konstituiert und wie jüdischer Kulturbesitz definiert wird, was jüdisches Kulturgut eigentlich bedeutet und wie das Verhältnis der jüdischen Kultur zu ihrer europäischen Umgebung ist. Hier wurde auch eine jüdische Politik geschaffen, die klare Forderungen als Kollektiv stellt. Es ging nicht mehr um »gleiche Rechte«, sondern um partikulare Ansprüche innerhalb des jüdischen Kollektivs. Das Assimilationsprojekt ist endgültig begraben. Arendt und Scholem reisen nicht als ehemalige Deutsche nach Deutschland, sondern als Juden, die gegenüber den Deutschen als solche auftreten. In dem Punkt sind sich Arendt und Scholem, bei allen Differenzen in der Beurteilung des Zionismus, vollkommen einig.
Die Schoa machte aus dem jüdischen Volk eine Rechtseinheit, die kollektive Ansprüche geltend machen konnte. Dass dies anerkannt wurde, war ein völkerrechtlicher Durchbruch. Arendt war für die Reconstruction Ende 1949 und 1950 einige Monate in Deutschland. Dort verhandelte sie mit deutschen und amerikanischen Behörden mit dem Ziel, keine jüdischen Kulturgüter in Deutschland und Europa zurückzulassen. Sie schrieb mehrere »Geheimberichte« über diese Tätigkeit – Berichte, die sich in amerikanischen Archiven befinden und bist jetzt nicht veröf- fentlicht wurden. Diese Berichte sind ein guter Beleg dafür, wie selbstbewusst Arendt verhandelte. Es war ihr klar, dass sie im Auftrag des jüdischen Volkes mit deutschen Bibliothekaren und Museumsverwaltern verhandeln musste. Sie wusste, dass sie auf den guten Willen dieser Menschen zählen musste, denn viel jüdisches Kulturgut tauchte nach dem Krieg in diesen deutschen Institutionen auf. Scholem glaubte weniger an diesen guten Willen, und in diesem Zusammenhang schrieb Arendt im Februar 1950 an ihn: »Misstrauen ist durchaus am Platze, aber es gibt auch ein Misstrauen, dass so blind sein kann wie blindes Vertrauen. ... Anders ausgedrückt, man kann sich auf den Standpunkt stellen, alle lügen, alle verbergen, keiner ist guten Willens – aber dann ist man auch am Ende nicht nur des Gesprächs, sondern auch aller möglichen Aktionen.« Für Arendt hieß jüdische Politik nach der Schoa, als Jude gleichberechtigt mit den Deutschen reden zu können. Die einzige Antwort auf das, was geschah, blieb kollektives jüdisches Handeln. Nur so konnte man das Judentum von der Last der Geschichte befreien.
Nicht viel Gutes hat Arendt in diesen Berichten über die neu gegründeten jüdischen Gemeinden zu sagen. Sie glaubte nicht, dass diese neuen Gemeinden die rechtmäßigen Besitzer der jüdischen Kulturgüter seien. Auch glaubte sie, dass diese Gemeinden nur vorübergehend existieren würden. So wurden in diesen Konflikten die Fragen nach jüdischer Kultur von Arendt und Scholem neu definiert und positioniert. Jüdischer Kulturbesitz war nun nicht mehr an Territorium oder Staatlichkeit gebunden, sondern an transnationale Religion und Ethnizität. Man konnte jüdische Kultur nicht mehr einfach in Länder zurückschicken, in denen es kein jüdisches Leben mehr gab.
Arendt, Scholem und ihre Kollegen von der Jewish Cultural Reconstruction schafften es, mehrere Hunderttausend Bücher aus Deutschland herauszubringen. Das Material lagert nun in Bibliotheken Israels und der USA.
Als Arendt in den 40er-Jahren ihre Liste der jüdischen Kulturschätze zusammenstellte, also eigentlich eine Landvermesserin jüdischer Kultur war, arbeitete sie an einer Neueinschätzung der Werke Franz Kafkas. Der Landvermesser K. im Roman Das Schloss, der so gern im Dorf aufgenommen werden möchte, ist kein Prophet des Untergangs, sondern ein Mann des guten Willens, der einen einsamen Tod stirbt. Arendt wusste, dass der Mensch des guten Willens wie ein Irrsinniger wirken musste. Und diesen Irrsinn teilte sie mit Scholem.

Der Autor arbeitet derzeit an einer Studie über die »Jewish Cultural Reconstruction«.

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