von Gila Lustiger
Zeitungen erstatten Bericht. Sie kolportieren Nachrichten aus der Welt. Manchmal mit dem Anspruch auf Sachlichkeit, manchmal auch ganz unverhohlen in den schillernden, verheißungsvollen Farben einer Ideologie oder Meinung. Oft reduzieren Zeitungen die Wirklichkeit auf Blattformat. Stutzen lange gesellschaftliche Prozesse zu ein paar Sätzen zusammen, fixieren Bürgerkriege in einprägsamen Bildern. Der gestreßte Großstadtmensch verleibt sich die Welt hastig ein. Häppchen für Häppchen: im Bus, im Flugzeug, in der U-Bahn. Das Zeitalter der Flaneure und Realitätsbummler ist vorbei. In einer Gesellschaft, in der Arbeit am Ergebnis gemessen wird, Wirtschaftlichkeit ein Wert per se ist, haben auch Nachrichten übersichtlich, bündig und zweckmäßig zu sein. Selbst die Lust verschafft man sich derzeit mit möglichst geringem Mitteleinsatz: online, kostengünstig, effizient. Heute weiß jeder, was er be- gehrt und einfordern kann. Vor allen Dingen weiß er, was er sucht, wenn er eine Zeitung aufschlägt: Sport, Klatsch, Politik, Reiseziele, Lifestyle, Mode, Skandale, Sex, Traumpartner, Bücher, Verbrechen, Kochrezepte, TV-Programm, Geldanlagen, Lebenshilfe, Kosmetiktips. Es gibt so viele Zeitungen wie es Zielgruppen gibt.
Man muß nicht jahrelang Marktforschung betrieben haben, um auf die Frage, wer wohl eine jüdische Zeitung kaufen geht, antworten zu können. Oder vielleicht doch? Meines Erachtens gibt es keine zweite ethnische, kulturelle oder religiöse Gemeinschaft, die die Welt in den letzten 200 Jahren derart beobachtet, in Frage gestellt und zu ergründen versucht hat wie die Juden. Es gibt ebenfalls kein zweites Volk, dessen Lebenswelt sich in den letzten 200 Jahren derart radikal verändert hat. So schnell und so oft hat sich der Alltag der Juden gewandelt, daß sich nur schwerlich ein fester Ankerplatz bot, an dem man das gute, bockbeinige, tradierte Denken hätte festbinden können. Es ist, wie es ist. Diesen Satz hat wohl kein europäischer, bestimmt kein deutscher Jude ohne Argwohn auszusprechen gewagt. Und wenn er es tat, so spürte er doch eine Bangigkeit, eine kleine, im Nacken hockende Angst vor unvorhersehbaren Entwicklungen.
Jüdische Zeitschriften und Zeitungen werden in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert veröffentlicht. Schaut man sie sich genauer an, machen sie diese Doppelbewegung sichtbar: Sie geben Kunde darüber, wie die Juden die Welt verstehen. Und wie die Welt mit den Juden umgeht. Beides ist unlöslich miteinander verwoben. Beides wirkt aufeinander ein. Ging es der von 1901 bis 1923 erschienenen Monatszeitschrift Ost und West darum, den »assimilierten Westjuden die Kulturleistungen der Ostjuden zu vermitteln«, so sollte die von Buber, von Weizsäcker und dem exkommunizierten Theologen Wittig herausgegebene Zeitschrift Die Kreatur den interkonfessionellen Dialog fördern. Wollte die Zeitschrift Im deutschen Reich »der Vertiefung der Liebe zum Deutschtum und zum Judentum« dienen, so fungierte die von Theodor Herzl gegründete Die Welt seit 1903 als Zentralorgan der Zionistischen Organisation, die Poel Zion hingegen als Blatt der Jüdischen Kommunistischen Partei Österreichs.
Wie die berühmte Exilzeitung Aufbau beweist, die 1934 in New York gegründet wurde und 1944 eine Auflage von 30.000 Exemplaren erreichte, müssen deutsch-jüdische Zeitungen nicht einmal in Deutschland verlegt werden. Viele nahmen die Heimat mit, wanderten mit ihrer Kultur aus. Der Aufbau, für den Thomas Mann, Albert Einstein, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig und Hannah Arendt geschrieben haben, verdinglichte eine typische Haltung. Sie ist einzigartig und verbockt. Und sie ist all den jüdischen Zeitungen und Zeitschriften gemein. Immerzu suchen die Juden das Gespräch. Von allen nur vorstellbaren und unvorstellbaren Standpunkten aus; von allen nur vorstellbaren und unvorstellbaren Standorten.
Damals, 1944, hatten die Juden keinen Raum mehr. Eingepfercht in KZs oder auf der Flucht, gab es keinen Ort, von dem sie sich an eine deutsche Öffentlichkeit hätten wenden können. Aber sie sprachen dennoch, sie sprachen aus der Sprache. In einem offenen Brief an den Publizisten Manfred Schlösser schreibt Gershom Scholem: »Ich bestreite, daß es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch, in irgendeinem echten Sinne, als historisches Phänomen je gegeben hat. Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den anderen in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern.«
Die Jüdische Allgemeine wird 60. Ich wünsche ihr Glück und Fortbestehen. Und ein klein bißchen angenehme Monotonie. Ich wünsche ihr, daß sie sich mit der Realität auseinandersetzt: mit dem Alltag der Juden in den Gemeinden und mit dem Alltag der Juden in der Welt. Ich wünsche ihr, daß sie Stellung nimmt zu politischen, sozialen und kulturellen Debatten, auf eine individuelle, herausfordernde, eben jüdische Art und Weise. Ich wünsche ihr Chuzpe und daß sie Juden ein Forum schafft, die sich nicht ihrer historischen Verantwortung entziehen und im Schatten der Schoa das Wagnis eingehen, Realität in Deutschland mitzugestalten. Wen ich mir als Zielgruppe für die Jüdische Allgemeine ausmale? Alle. Alle, die bereit sind, einander zu entdecken.