Herr Kunert, wie antisemitisch war die DDR?
kunert: Wenn ich einen bösen Scherz machen wollte, würde ich sagen: In dieser Mangelgesellschaft mangelte es sogar an Antisemitismus. Es gibt tatsächlich ausreichende Nachweise und Indizien dafür, dass die DDR weiß Gott nicht antisemitisch war. Wenn Sie in die alten Verzeichnisse der Verlage schauen: Es ist über den Holocaust eine Fülle von Dokumentationen, Erinnerungen und ähnlches erschienen. Das ging bis in die Belletristik, wie man weiß, etwa mit Jurek Becker und seinem Roman »Jakob der Lügner«. Es war also ein präsentes Thema.
Und wie sah es mit dem Antizionismus aus? Daran mangelte es ja wohl kaum.
kunert: Ja, aber diesen Antizionismus gab es höchstens als offizielle Politik, die aber nicht die geringste Auswirkung auf die Be-völkerung hatte – wie das mit der DDR-Politik überhaupt in der Hauptsache der Fall war. Die offizielle Politik, dass Israel in Palästina der Aggressor sei, hat die Bevölkerung weder interessiert noch erreicht.
Ihr Kollege Stefan Heym hat gleichwohl 1982 auf antisemitische Gefühle in der DDR-Bevölkerung hingewiesen. Die Synode des evangelischen Kirchenbundes in der DDR hat 1978 davor gewarnt, Kritik am Staat Israel als Vorwand für neuen Antisemitismus zu gebrauchen. Dafür muss es doch Anlässe gegeben haben?
kunert: Es mag sein, dass Stefan Heym irgendwo irgendetwas festgestellt hat. Ich habe es nicht feststellen können. Ich bin ja ziemlich weit herumgekommen in der DDR, und ich bin nie auf irgendwelche antisemitischen Äußerungen gestoßen. Und ich weiß auch von vielen anderen jüdischen Kollegen – etwa Jurek Becker oder Stefan Hermlin – , dass sie diesem Antisemitismus nie begegnet sind.
Unbestritten ist aber doch, dass es in der DDR Fälle von antisemitischen Schmierereien, auch Schändungen von Friedhöfen gab. Nur: Solche Vorkommnisse sind von den Strafverfolgungsbehörden im Stillen abgehandelt wurden.
kunert: Auf keinen Fall, im Gegenteil. Schon wegen der Konkurrenz zum Westen ging das nicht. Und natürlich wurde aus einer moralischen Haltung heraus so etwas verfolgt. Man wollte nicht gleichgesetzt werden mit Nazis, mit antisemitischen Barbaren. Also wurde dagegen eingeschritten.
Andererseits wurden in den Jahren 1949 bis 1953 Juden in der DDR verfolgt.
kunert: Nicht als Juden. Ein überlebender Cousin meiner Mutter, der in der Nazizeit geschützt war, weil er mit einer sogenannten arischen Frau verheiratet war, hatte in Berlin nach 1945 ein Konfektionsgeschäft aufgemacht. Als dann in Westdeutschland beziehungsweise in Westberlin die Wiedergutmachung aktuell wurde, ging er weg. Aus zwei Gründen: Einerseits wegen der Chancenlosigkeit, als Geschäftsbesitzer in der DDR zu reüssieren oder sich halten zu können. Andererseits gab es die Möglichkeit, eine Wiedergutmachung zu bekommen. Und aus eben diesen Gründen sind sehr viele weggegangen.
Die DDR hat keine Wiedergutmachung geleistet, weil sie sich nie als Erbin der Täter betrachtet hat.
kunert: Ja, sie hat jedenfalls so getan. Sie hat sich auf die Seite der »Sieger der Geschichte« geschlagen, wie das so schön hieß. Mit einer ideologischen Volte: Man hat den Anschein erweckt, als seien am Nazismus nur Angehörige des Bürgertums oder sonst wie gehobene Schichten beteiligt gewesen, die es ja laut Statistik in der DDR nicht mehr gab, in der die Arbeiter und Bauern regierten, die sowieso alles Edelmenschen waren.
Was haben die jüdischen Kommunisten in der DDR dazu gesagt?
kunert: Die Juden in der Partei- und Staatsführung, von Albert Norden bis Hermann Axen, waren alles assimilierte Leute, die sich selbst nie als Juden empfunden haben, sondern als Kommunisten.
Wenn es, wie Sie sagen, keinen Antisemitismus in der DDR gab: Wofür hat sich dann die Volkskammer nach der Wende 1990 bei Israel und den Juden entschuldigt?
kunert: Die Volkskammer hat sich für den Holocaust entschuldigt und nicht für das Verhalten der DDR gegenüber den wenigen, dort lebenden Juden. Es war, wie ich finde, doch eine ziemlich billige Entschuldigung. Vorher wurden die überlebenden Juden als Opfer des Faschismus eingeordnet – und sie bekamen ja entsprechend auch weitaus höhere Renten als jeder Durchschnittsbürger. Diese Entschuldigung war dann eher eine allgemeine, eine Art Nachzüglerentschuldigung.
Das Gespräch führte Wolf Scheller.