Geheimnisumwittert war und ist er. Wir kennen gerade einmal seinen Namen sowie sein Bild in der Manessischen Liederhandschrift mit spitzem Judenhut. Er kam, sang und verschwand – keine weitere Lebensspur als seine zwölf Strophen hinterlassend. Süßkind war ein in den damaligen jüdischen Gemeinden geläufiger Na- me, häufig mit dem hellenistischen »Alexander« gepaart. Ob der Poet Jude war, ist allerdings umstritten, so wie sein Leben und Werk nur unsicher auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert werden können. »Trimberg« (eine Burg bei Würzburg) gibt auch nicht mehr Aufschluss als den geografischen Wirkungskreis und die mögliche Bindung an einen Feudalherrn.
Ein Minnesänger, wie manchmal behauptet, war Süßkind nicht. Das konnten nur Ritter sein. Auch gehörte die höfische Minne nicht zu seinem dichterischen Kanon. Sozial und literarisch müssen wir ihn wohl in die Riege der Wanderdichter einreihen, die ein ziemlich armseliges Leben fristeten. Es gab etwa 40 Spruchdichter, die Sinn-, Lob- und Scheltsprüche religiöser, moralischer und politischer Tendenz verfassten. Trotz oder gerade wegen ihrer heimatlosen Wanderexistenz galten sie als ästhetische und mitunter kritische Zeitins- tanz. In seiner Dichtung trug Süßkind die üblichen Themen vor: Tugend, Gotteslob und Gerechtigkeit. Auf seine Herkunft verweisen die Elemente jüdischer Weisheit und Frömmigkeit in den Sprüchen ebenso wie das Fehlen des Marienlobs und die Ablehnung des Wuchervorwurfs an die Juden.
spuren der verfolgung Im Verlauf des 12. Jahrhunderts waren die Juden immer mehr aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen worden, das dritte und vierte Laterankonzil grenzte sie weiter aus. Rechtlich galten sie als Kammerknechte des Kaisers – waffenunfähig, vollständig abhängig und persönlich unfrei. Der Wind wehte den Juden ins Gesicht. Spuren davon sind auch in Süßkinds Sprüchen zu verfolgen. »Ein deutscher Dichter jüdischen Bekenntnisses erscheint in der Periode des Ghettos und der Judenverfolgungen ganz anormal«, schreibt Raphael Straus und folgert daraus, dass es sich bei Süßkind somit nicht um einen Juden gehandelt haben kann.
Doch in den wenigen Liedern Süßkinds schlagen sich sowohl seine arm-stolze Zunft wie das Leben der benachteiligten jüdischen Minderheit nieder. Schon die erste Strophe schlug in die zeitgenössisch beliebte Kerbe vom wahren Tugend- statt dem Geburtsadel. Gegen »des Lasters Wunden und der Schande Gicht« hülfen »fünf Ingredienzen«: »Verlässlichkeit und Anstand, Herzlichkeit und Energie und ... als letzte Würze die Bescheidenheit.« (Strophe 2) Dieses Bild wird von manchen auf das Hohe Lied Salomos, von anderen auf das Ritual beim Pessachfest, von dritten auf Apothekenkenntnisse bezogen.
Dem sittlichen Leben ist das Lob der Gedankenfreiheit (Strophe 4) und der getreuen Ehefrau – »daz vil reine kiusche wip« – gewidmet. Ungerecht ist die Gesellschaft: »Der Reiche bäckt mit Mehl, der Arme bäckt mit Asche.« (Strophe 9) »Wie manchen gibt’s, der Allen alles raubte, gewänn er damit Butter auf sein Brot.« Mitunter gehe es gar nicht anders. Dieses Motiv taucht in der Klage vom armen Wolf auf, der ab und zu ein »genselin« (Gänslein) stibitzt, weil er es braucht. Selbst wenn er wollte, könnte er nicht ehrlich sein. Umgekehrt sei mancher, der es gar nicht nötig habe, nur auf Geldvermehrung aus. Der Wolf fasst zusammen: »des muoz ich rouben uf den lib durch hungers not. Der valsche in siner wise ist schedelicher vil dann ich – und will unschuldig sin.« (Sinngemäß: »Der Hunger treibt mich zum Raub. Der Heuchler ist viel gefährlicher als ich und möchte doch als unschuldig gelten.«)
Der irdische Mensch ist des Todes. Das Dasein ist vergänglich, der Leib verfällt den Würmern. Weder Gut noch Geburt, weder Rat noch Magie helfen vor dem Tod: »Freunde, Reichtum, Privileg der Stände, Begabung, Macht, nichts gibt es, das ihn bände.« (Strophe 7) Vor allem plagt den Dichter, »daz nieman weiz nu wa din sele kumet hin« (niemand weiß, wohin deine Seele kommt). Das weist weniger auf eine christliche Heilsgewissheit nach dem Tod hin als etwa auf die 33. der Selichot (Bitten um Vergebung) am Vorabend des jüdischen Neujahrstages, die Todesklage des 88. Psalms oder den Babylonischen Talmud (Sprüche der Väter).
Dem Sünder bleibt nur die Bitte: »O Gott, der gnädiglich verstehen wird, hilf gnädig meiner Seele weiter.« (Strophe 3) Da schimmert der Gebetshymnus des 104. Psalms durch, der Gott als König der Könige preist. Er ist als verzeihender, nicht als zürnender und strafender Gott gedacht.
Bitter verabschiedet sich der Dichter in Strophe 9, vordergründig eine berufsbedingte Armutsklage, die auf den Undank des begüterten Publikums mit (angedrohtem) Abgang antwortet: »des ich ir hof will fliehen und will mir einen langen bart lan wachsen griser hare: ich will in alter iuden leben mich hinnan fürwert ziehen.« (»Ich werde ihren Hof verlassen und mir einen langen grauen Bart wachsen lassen. Wie ein alter Jude will ich fortan leben.«) Es kann nun heißen als Jude oder wie ein Jude. Warum aber sollte ein Nichtjude mit dem Bild eines alten resignierten Juden spielen? Der Ton der Strophe und ihre Stellung im Werk legen eine andere Folgerung nahe: Ist es nicht einer, der auszog, sich in der Welt der Anderen zu bewähren, sich ausgestoßen fühlt und sich nun radikal und entschlossen abwendet – heim zum Judentum? So gesehen wäre es eine Allegorie auf das Schicksal der Juden im Mittelalter.
berührungsangst Sehr bekannt war und wurde er nie, der Spruchdichter Süßkind von Trimberg. Jahrhundertelang war er vollkommen vergessen, und manches Literaturlexikon führt ihn auch heute nicht. 1865 veröffentlichte Livius Fürst ein Dichtwerk über ihn, in dem er als human-sozialer Rebell erscheint. 1939 kam vom Schweizer Max Geilinger ein Süßkind-Drama he- raus, in dem dieser als utopischer Lichtbote der Toleranz gezeichnet wird. Bekannter wurde der Roman Süßkind von Trimberg von Friedrich Torberg (1972). Darin verkörpert er die gescheiterte deutsch-jüdische Kultursymbiose. Carl Heinz Kurz folgte 1982 mit Der Sänger mit dem hohen Hut – Memoiren eines alten Toren, das die Torbergsche Interpretation übernahm.
Ein wenn auch schmaler Pfad führt von der Existenz des Spruchdichters in mittelalterlichen Widersprüchen über die meist leidvolle und schließlich katastrophische Geschichte der Juden in den folgenden Jahrhunderten und ihre literarische Verarbeitung bis in unsere Tage. Wer seine Tugendarznei regelmäßig nehme, schrieb und hoffte Süßkind, »der wird immun und aller Schwäche frei. Wohl dir, bist du Gefäß für diese Arzenei, so blühst du auf, zur schönsten Frucht bestimmt«.