Jetzt bin ich ein Mörder. Diese Tatsache führt zu einer gewissen sozialen Isolation. Nicht, weil mich mein Sohn kürzlich einen »Stimmungsmörder« nannte, vielmehr bin ich nun offiziell der »Gesprächemörder«. Zunächst war es nur ein leiser Verdacht. Wann immer ich nach dem Morgengebet zu laufenden Gesprächen hinzutrat, verstummten die tuschelnden Personen und sahen mich mit großen, er-
wartungsvollen Augen an. Wenn ich je-
mandem überschwänglich »Schabbat Schalom« wünschte und mich erkundigte, was es Neues gäbe, antwortete die Person nur in aller Knappheit »Schabbat Schalom«. Das war dann tatsächlich ein sehr friedlicher Schabbat, in erster Linie ein sehr ruhiger. Auch außerhalb der Ge-
meinde gab man sich wortkarg. Ja, alles in Ordnung, hieß es meist lapidar auf die Frage, wie es gehe und was man so hört. Dann hatten alle immer irgendeinen Termin oder mussten irgendwohin.
Was war passiert? Antisemitismus konnte ich vermutlich ausschließen. In ei-
ner Synagogengemeinde eher unüblich, natürlich nicht unmöglich. Hatte ich mich unbeliebt gemacht? Etwa, als ich freimütig erzählte, ich wäre überzeugt, dass an der Spitze einer Gemeinde nur Personen stehen könnten, die einen ge-
wissen Vorbildcharakter haben und ich einen nichtjüdischen Ehepartner für ein disqualifizierendes Merkmal halte?
Hatte es sich herumgesprochen, dass ich nichts dagegen habe, wenn man Frauen zur Tora aufruft? Wurden diese Verstöße gegen den Mainstream mit sozialer Ächtung bestraft? Oder war es einfach mangelnde Körperhygiene? Mundgeruch etwa? Das würde erklären, warum einige Menschen sich abwandten. Die paar
Knoblauchknollen sind doch verträglich. Meine Frau, die gnadenlos ehrlich zu mir ist – manchmal etwas zu ehrlich, konnte diesen Verdacht ausräumen.
Oder war es, weil ich beim Nachschenken des Kidduschweins kürzlich das Glas nicht in vollem Umfang traf und einen Teller auf den Fleck stellte? Wer konnte diese Geschichte verraten haben? War es vielleicht, weil ich kürzlich ein Gemeindemitglied durch meine bloße Anwesenheit in einem Discounter beschämt hatte? Als ich mit meinem Einkaufswagen um die Wursttheke bog, stand die ältere Dame da. Ich konnte nichts dafür! Mitten im Gang. In jeder Hand eine Blutwurst. Als sich unsere Blicke trafen und ich grüßte, sah sie ihre Hände an, als würden sie nicht zu ihr gehören. »Das kann man hier alles nicht essen«, sagte sie schnell und ich antwortete, ich sei überzeugt, das müsse jeder selber entscheiden. »Persona non grata« flüsterte mir nachts eine Stimme ins Ohr, bevor ich in den unruhigen Schlaf der Dissidenten fiel.
Kurz bevor ich vollkommen paranoid wurde, geschah dann etwas Erleuchtendes. In einer kleinen Synagoge, in der man überraschenderweise mit mir sprach, erzählte mir ein Bekannter eine Anekdote aus dem Gemeindeleben. »Das stand letztens in der Zeitung«, fügte er hinzu. Die Geschichte kannte ich, denn ich hatte sie selbst erlebt – und für diese Kolumne hier beschrieben. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wa-
rum ich seit Wochen beim Kiddusch ge-
schnitten werde. Chajm Guski, Foto: Herlich
Glosse