von Ytzhak Ahren
Ohne Zweifel gehört Rabbiner Samson (Ben) Raphael Hirsch, der am 20. Juni 1808 in Hamburg geboren wurde, zu den großen Gestalten des Judentums im 19. Jahrhundert. Er war ein Tora-Lehrer und Seelsorger, dessen Integrität, Frömmigkeit, Überzeugungstreue und religiöses Genie Freund wie Feind beeindruckten. Worin seine besondere Leistung besteht und wie einzelne Aspekte seines vielseitigen Werkes einzuschätzen sind, war bereits Gegenstand zahlreicher Erörterungen. Die beste Darstellung findet man in der umfangreichen Hirsch-Biografie, die Rabbiner Eliyahu Meir Klugman 1996 in den USA veröffentlicht hat; dieses materialreiche Buch ist noch nicht ins Deutsche übersetzt worden.
Eine intensive Beschäftigung mit dem Leben und den Schriften von Hirsch lohnt sich, weil dadurch viele Probleme des jüdischen Volkes in der Gegenwart besser verständlich werden. Viele innerjüdische Auseinandersetzungen, die man heute sowohl in Israel als auch in der Diaspora beobachten kann, haben ihre Wurzeln in jener Zeit des Umbruchs im 19. Jahrhundert. Hirschs beeindruckende Leistung brachte Edward Jelenko auf die Formel: »Ihm gelang es, das Erbe des jüdischen Volkes vor dem rasch fortschreitenden Verfall zu retten und den Fortbestand einer gesetzestreuen Judenheit in Deutschland zu sichern.«
Hirsch begann zunächst eine kaufmännische Lehre. Sein intensives Studium der jüdischen Tradition bei dem Hamburger Rabbiner Chacham Isaac Bernays ließ ihn seine Lebensaufgabe erkennen. Er beschloss, Rabbiner zu werden und für die Stärkung des gesetzestreuen Judentums zu wirken. Mit 20 Jahren ging Hirsch nach Mannheim auf die Jeschiwa des Rabbiners Jacob Ettlinger. Schon nach einem Jahr erhielt er von Ettlinger die Semicha, das Diplom als Rabbiner. Auch von Rabbiner Bernays wurde er 1830 ordiniert. Bevor er seine erste Stelle als Gemeinderabbiner antrat, studierte Hirsch noch kurze Zeit an der Universität in Bonn Geschichte und Philosophie. Allerdings irrte der Historiker Arthur Hertzberg, als er behauptete, Hirsch sei der erste deutsche Rabbiner gewesen, der den Doktorgrad einer Universität erhielt. Hirschs Söhne haben diesen Titel erworben, der Vater nicht.
Im Jahre 1830 erhielt Hirsch eine Stelle als Landrabbiner in Oldenburg – er amtierte dort elf Jahre. 1836 und 1837 veröffentlichte er seine ersten Bücher, die wegen ihrer Originalität sofort großes Aufsehen er- regten. Heinrich Graetz, der später als Historiker bekannt wurde, bat ihn, als sein Schüler aufgenommen zu werden. Hirsch stimmte zu, und Graetz lebte von 1837 bis 1840 im Hause des Oldenburger Rabbiners.
Paradoxerweise entstand die erste Publikation, Neunzehn Briefe über Judenthum, auf Anregung eines Nichtjuden, und zwar seines Verlegers. Als Landrabbiner schrieb Hirsch ein Lehrbuch, um die ihm unterstellten Religionslehrer für ihre wichtige Aufgabe auszurüsten. Seiner Einführung in die Welt des Judentums gab er sowohl einen hebräischen als auch eine deutschen Titel: Chorew. Versuche über Israels Pflichten in der Zerstreuung. Für ein solches Buch war ein jüdischer Verleger in jener Zeit nicht zu finden, und deshalb wandte sich Hirsch an einen Nichtjuden. Dieser scheute das Risiko, ein dickes Buch über die Vorschriften der Tora herauszubringen, und machte den Vorschlag, mit einer kleineren Schrift die Aufnahmebereitschaft des Marktes zu testen. So entstanden die Neunzehn Briefe, die der jüdische Sozialist Nachman Syrkin einmal als das wichtigste jüdische Buch der Neuzeit bezeichnet hat.
Was erklärt den großen Erfolg der Neunzehn Briefe? Der Historiker Marc Breuer schreibt: »Die Begeisterung für das Judentum des alten Glaubens und der alten Gesetze spricht aus jeder Zeile der Neunzehn Briefe. Diese Begeisterung war eigentlich das Wesentliche, das Hirsch von Moses Mendelssohn unterschied, dem er viel zu verdanken hatte und dessen Ansätze zu einer ›geistigen Erfassung‹ des Judentums er in einer Anmerkung zum 18. Brief anerkannte. Während jedoch um Mendelssohns Darstellung des überlieferten Judentums ein kühler Wind weht und ein Hauch der Müdigkeit zu verspüren ist, fesselt Hirsch den suchenden Leser mit dem Sturm seiner Begeisterung, mit der frischen Freude seiner Bejahung und mit der vorbehaltlosen Bereitschaft für ein jüdisches Pflichtenleben. So etwas war damals ohne Beispiel: Ein hoch gebildeter und für alles Schöne der europäischen Kunst und Literatur aufgeschlossener Jude begeistert sich für Tora, Talmud und Schulchan Aruch!«
Von 1841 bis 1847 war Hirsch Landrabbiner Ostfrieslands. Er wohnte in der Hafenstadt Emden, betreute aber auch weitere Gemeinden. Der Drang nach einem größeren Arbeitskreis bewog ihn, Emden zu verlassen. Von 1847 bis 1851 war Hirsch Oberlandrabbiner von Mähren und dem österreichischen Schlesien mit Sitz in Nikolsburg (heute Mikulov). 60.000 Juden lebten damals in seinem Amtsbereich. In Nikolsburg schrieb Hirsch zahlreiche religionsgesetzliche Gutachten. Einige dieser Responsa sind 1992 im hebräischen Band Shemesh Marpeh veröffentlicht worden.
Von 1851 bis zu seinem Tode Ende 1888 lebte Hirsch in Frankfurt am Main. Er übernahm die geistige Führung der »Israelitischen Religionsgesellschaft«. Diese Vereinigung hob sich ab von der großen »Einheits- gemeinde«, die schon seit geraumer Zeit von Reformjuden beherrscht war. Als Rabbiner der orthodoxen Gemeinde sorgte Hirsch dafür, dass es in Frankfurt wieder alle Institutionen gab, die gesetzestreue Juden brauchen. Für die Unabhängigkeit seiner Gemeinde hat Hirsch unermüdlich ge- kämpft. Das am 28. Juli 1876 vom Preußischen Landtag verabschiedete Gesetz, das Juden erlaubte, aus Gewissensgründen aus ihrer Gemeinde auszutreten, ohne dass sie gleichzeitig das Judentum verlassen mussten, war von Hirsch beantragt worden. Als Folge dieses preußischen Gesetzes entstanden einige sogenannte Austrittsgemeinden.
Hirsch gründete 1853 eine jüdische Realschule und war mehr als 20 Jahre deren (unbezahlter!) Direktor. Hirschs Gründung wurde zum Prototyp einer modern-orthodoxen Schule, die ihre Schüler in zwei Kulturen einführen will. Auf der Fahne der Hirsch-Schule stand die Devise »Tora im Derech Eretz« (Tora verbunden mit allgemeiner Bildung). Diese Devise ist zwar das Stichwort für Hirschs Richtung geworden, aber Kenner seiner Schriften weisen darauf hin, dass diese Formel nicht der Kern seiner Lehre ist. Eine andere Formulierung trifft diesen Kern besser: »Sich selbst begreifendes Judentum« lautet die Formel, auf die Hirsch seine Religionsphilosophie brachte.
Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Hirsch fleißig publiziert. Er gab die Monatszeitschrift Jeschurun heraus und veröffentlichte zahlreiche Werke, aus denen die Übersetzung und Erklärung des Penta-teuchs (1867-1878) sowie der Psalmen (1882) herausragen.
Hirsch gilt als der Begründer der Neo-Orthodoxie – der Gegenwartsflucht der alten Orthodoxie setzte er eine freudige Bejahung der Gegenwart entgegen, wobei er vor den Gefahren der Assimilation warnte. An Kritik von links und von rechts hat es natürlich nicht gefehlt. Hirsch wollte eine der deutschen Kultur gegenüber aufgeschlossene Jugend für die ungeschmälerte Tradition gewinnen, und unter den gegebenen Bedingungen hat er erstaunlich viel erreicht. Seine Austrittsgemeinde in Frankfurt hat bis zur Vernichtung durch die Nationalsozialisten existiert. Heute gibt es einige Gemeinden und Schulen in den USA und in Israel, die sich als Fortsetzer seines Werkes betrachten. Es ist aber klar, dass die Hirschianer in der heutigen Orthodoxie lediglich eine Minderheit bilden. Im gesetzestreuen Judentum dominieren heute die vom litauischen Lernstil geprägten Talmudakademien (Jeschiwot) und die diversen chassidischen Strömungen.
Im Familienkreis pflegte Hirsch zu sagen: »Viele werden meinen Namen in Erinnerung behalten, aber es werden sich keine Leser für meine Bücher finden.« Hier irrte Hirsch! Seine wichtigsten Schriften sind ins Hebräische, ins Französische und ins Englische übersetzt worden, und man hat viele seiner Hauptwerke in den letzten Jahren auf Deutsch wieder neu aufgelegt. Hirschs Bibelerklärungen und seine Arbeiten über das Religionsgesetz werden in orthodoxen Kreisen noch immer erörtert.