Türkei

Wegweisend

von Harald Loch

Wenn in diesem Jahr die Türkei als Buchmesseschwerpunkt in aller Munde ist, sollte auch der Aspekt der vor 75 Jahren einsetzenden jüdischen Emigration in dieses traditionell nicht antisemitische Land gewürdigt werden. Als sich 1933 für Nazi-Gegner und jüdische Wissenschaftler die Türen deutscher Universitäten schlossen und viele Flüchtlinge Zuflucht suchten und auch im Ausland oft vor verriegelten Toren standen, da öffnete sich die Pforte am Goldenen Horn für eine Reihe von ihnen.
Die Türkei suchte Wissenschaftler, Verwaltungsfachleute, Ärzte und Künstler für den Aufbau ihrer Hochschulen und sonstiger Bildungseinrichtungen. Qualifizierte Fachkräfte waren willkommen, bei der von Kemal Atatürk angeschobenen Modernisierung des Landes mitzuhelfen.
Das Angebot, aus der Not der Verfolgung geboren, und die Nachfrage aus Mangel an geeigneten eigenen Kräften in der Türkei deckten sich weitgehend. Ohne Rücksicht auf Religion oder ethnische Herkunft nahm die Türkei insgesamt fast 1.000 Flüchtlinge auf. Mit ihnen wurden vertragliche Vereinbarungen geschlossen, in denen unter anderem geregelt war, dass Lehrende nach drei Jahren Einarbeitungszeit ihren Unterricht auf Türkisch zu halten hätten – was den meisten auch gelang. Die Bekanntesten aus dieser Gruppe von Flüchtlingen waren Ernst Reuter, Bruno Taut und – bis zu seiner Emigration in die USA – Paul Hindemith.
Einer aus der ersten Reihe war auch Ernst E. Hirsch (1902-1985). In seiner Autobiografie Als Rechtsgelehrter im Lande Atatürks schildert er sein Leben und Wirken als Verfasser von Gesetzesentwürfen sowie als Lehrer und Forscher an den Universitäten von Istanbul und Ankara. Zusammen mit anderen Exilprofessoren hat Hirsch die akademische Elite der Türkei auf einen international anerkannten Stand gehoben und vor allem das türkische Handels- und Aktienrecht entworfen. Noch heute ist Hirschs grundlegendes Wirken in juristischen Fachkreisen in der Türkei präsent. Viele seiner Studenten wurden später maßgebliche Rechtsgelehrte des Landes.
Hirschs Autobiografie vermittelt unter anderem einen Eindruck von den Schwierigkeiten im Lande. Die Verantwortlichen der Türkei erwarteten von den deutschen Professoren Frontalunterricht, und in ihren Prüfungen sollten sie Wissen abfragen. Doch Hirsch ließ sich in methodische Fragen nicht hineinreden. Er beteiligte seine Studenten am Unterricht und prüfte ihr Verständnis der Zusammenhänge.
Wer heute durch die großen Städte der Türkei reist, wird städtebauliche Zeugnisse und zahlreiche repräsentative Gebäude nicht übersehen können, die von deutsch-jüdischen Architekten und Städteplanern im Exil entworfen wurden. Die in Hamburg habilitierte Kunstwissenschaftlerin Burcu Dogramaci hat die Wirkungsgeschichte vor allem der Architekten nachgezeichnet, die interessante Aufträge auch für repräsentative Regierungsbauten so umstandslos erhielten, dass sich türkische Kollegen gegenüber den deutschen und jüdischen Immigranten zurückgesetzt fühlten.
Künstler wie der Bildhauer Ernst Belling waren von den Nazis als »entartet« eingestuft worden. In der Türkei fand er zu gegenständlichen Arbeiten zurück und unterrichtete dementsprechend. Die ganze Palette der deutschen und jüdischen Wissenschaftsmigration in die Türkei behandelt ein von Christopher Kubaseck und Günter Seufert herausgegebener Sammelband.
Ein Rückblick auf die Zeit vor Atatürk ermöglicht es zu ermessen, welchen enormen Modernisierungssprung die Türkei in den 15 Jahren nach Ende des Ersten Weltkriegs gemacht hatte. An der weiteren Entwicklung waren deutsche und vor allem jüdische Spitzenkräfte maßgeblich beteiligt. Eine wirklich kritische Würdigung dieses deutsch-jüdischen Exils in der Türkei, die den Anteil an Toleranz und Humanität des Gastlandes von seinem ökonomisch und modernisierungsstrategisch be- stimmten Einwanderungsinteresse differenzieren würde, steht allerdings noch aus.

burcu dogramaci: kulturtransfer und nationale identität
Gebr. Mann, Berlin 2008, 431 S., 79 Euro

ernst e. hirsch: als rechtsgelehrter im lande atatürks
Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2008,
252 S., 24 Euro

christopher kubaseck und
günter seufert (hrsg.):
deutsche wissenschaftler im
türkischen exil
Ergon, Würzburg 2008, 264 S.

New York

UN: Hunderte Kinder seit Scheitern der Waffenruhe in Gaza getötet

Unicef-Exekutivdirektorin fordert die Terrormiliz Hamas und Israel auf, dem humanitären Völkerrecht nachzukommen und Kinder zu schützen

 01.04.2025

Brandenburg

Beratungseinrichtung meldet mehr rechtsextreme Gewalt in Brandenburg

Der Verein »Opferperspektive« fordert Politik und Gesellschaft auf, entschieden zu handeln

 28.03.2025

USA

Michel Friedman: Trumps Krieg gegen Medien ist unerträglich

Der Publizist warnt vor den Angriffen des US-Präsidenten auf kritische Berichterstattung und akademische Freiheit

 28.03.2025

Bilanz

Beauftragter fordert Geld aus Sondervermögen für Gedenkstätten

Der Beauftragte für Sinti und Roma, Daimagüler, scheidet aus dem Amt. Bei der Vorlage seines Tätigkeitsberichts gibt er noch einige Empfehlungen für den künftigen Umgang mit der Minderheit

von Alexander Riedel  26.03.2025

Bundestag

Alterspräsident Gysi mahnt zu gegenseitigem Respekt

Der Linken-Politiker Gregor Gysi eröffnet die konstituierende Sitzung des neuen Bundestags. Er hat dabei eine ganze Menge zu sagen

 25.03.2025

Westjordanland

Oscar-prämierter Regisseur Ballal laut Augenzeugen von Siedlern verletzt

Anfang März noch stand Regisseur Hamdan Ballal bei der Oscar-Verleihung in L.A. im Blitzlichtgewitter. Nur drei Wochen später wird er laut Augenzeugen zusammengeschlagen

 25.03.2025

Israel

Bezalel Smotrich: 13 Wohnviertel sind nun Siedlungen

Durch die Erhebung zu eigenständigen Siedlungen kann die Regierung finanziell anders fördern

 23.03.2025

Jerusalem

Eklat um Konferenz: Herzog zieht die Notbremse

Israels Staatspräsident will anlässlich die zur Antisemitismuskonferenz geladenen rechtsradikalen Politiker aus Europa nicht empfangen

von Michael Thaidigsmann  20.03.2025

Washington

Trump ordnet Angriffe auf Huthi-Terrormiliz an

Huthi-Milizen greifen vom Jemen immer wieder Schiffe an. US-Präsident Trump reagiert mit Härte

 15.03.2025