von Tobias Kühn
Er gilt als Brückenbauer. Viele sehen in Leo Baeck die Leitfigur des jüdisch-christlichen Gesprächs. Der Rabbiner und Gelehrte führte den Dialog bereits in einer Zeit, als es ihn offiziell noch nicht gab. Mitten im »Dritten Reich«, 1938, als mancher protestantische Theologe vom »Arier-Jesus« predigte und getaufte Nazis Synagogen anzündeten, veröffentlichte Baeck sein Buch Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte.
»Leo Baeck wollte zeigen, daß die christlichen Evangelien jüdischen Geist atmen«, sagt der evangelische Theologe Berndt Schaller, einer der drei Präsidenten des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Niemand bezweifle heute mehr, daß das frühe Christentum eine jüdische Bewegung war, so Schaller. Er betont, daß im christlich-jüdischen Dialog bis heute Baecks Grundeinsicht nachwirke: Judentum und Christentum haben etwas miteinander zu tun und sollten deshalb nicht gegeneinander handeln. Der emeritierte Professor zitiert aus dem Werk Leo Baecks eine seiner Lieblingspassagen: »Judentum und Christentum sollen einander Ermahnung und Warnung sein: Das Christentum das Gewissen des Judentums und das Judentum das Gewissen des Christentums.« Die Sätze stammen aus einem Aufsatz, den Leo Baeck 1948 im Schatten der Schoa niedergeschrieben hat. »Sie sind mehr als ein Anstoß«, sagt Schaller »sie sind Prophetie.« Allein durch sie wirke der große Rabbiner weit in die Zukunft.
»Aber Leo Baeck ist nicht von Anfang an ein Brückenbauer gewesen«, betont der Erziehungswissenschaftler und Historiker Micha Brumlik, einer der wenigen jüdischen Partner im interreligiösen Gespräch. In seinem Werk Vom Wesen des Judentums habe Baeck 1905 den Dialog auf eine polemische Weise aufgenommen. Es sei ihm damals vor allem darum gegangen, protestantische Vorurteile gegenüber dem Judentum zu widerlegen. Er habe den Begriff »Pharisäer« geklärt und damit die Vorläufer des rabbinischen Judentums rehabilitiert, betont Brumlik. In einer Art Gegenoffensive habe Leo Baeck später, 1922, in seinem Buch Romantische Religion das Judentum verteidigt als eine Religion, die, anders als das Christentum, in der Welt steht. Erst ab 1938 habe Leo Baeck sich dem Christentum gegenüber weder polemisch noch apologetisch gezeigt, sagt Brumlik. »In seinem Buch Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte wollte Baeck deutschen Christen zeigen, daß man Jesus nur aus jüdischer Sicht verstehen könne.«
Vor allem das liberale Judentum habe Leo Baeck einen anderen Blick auf Jesus von Nazareth gelehrt, sagt Brumlik. »Dies führte zu einer Haltung, wie sie Schalom Ben Chorin formuliert hat: ›Der Glaube Jesu einigt uns – aber der Glaube an Jesus trennt uns‹.« Auf dieser Basis, so Brumlik, könne man im jüdisch-christlichen Dialog miteinander verhandeln.
Für die katholische Präsidentin des Koordinierungsrates, die Literaturwissenschaftlerin Eva Schulz-Jander, ist »Leo Baeck eine der Lichtgestalten, an der wir uns im christlich-jüdischen Gespräch orientieren«. Er stehe für die Öffnung dem anderen gegenüber. Schulz-Jander erzählt von einer kleinen Umfrage, deren Veröffentlichung sie derzeit vorbereite. Sie hat 30 deutschsprachigen Juden jeweils drei Fragen gestellt: »Gibt es etwas, das Sie als Jude, als Jüdin am Christentum für positiv erachten? Gibt es christliche Persönlichkeiten, die für Ihr Denken und Handeln von Bedeutung waren oder sind? Gibt es christliche Feste, Bräuche, Traditionen, denen Sie persönlich etwas abgewinnen können?« Sehr vielfältig seien die Fragen beantwortet worden, sagt Schulz-Jander. »Die Ideen zu solchen Projekten entstehen im Geiste Leo Baecks.«
Im Geiste des großen Rabbiners und Gelehrten das interreligiöse Gespräch zu führen, heißt für Rabbiner Walter Rothschild vor allem, es ehrlich zu führen und als wirklichen Dialog. »Wenn es ein Dialog sein soll, dann müssen beide Seiten etwas sagen und ihre Standpunkte selbstbewußt vertreten.« Leo Baeck habe sein Werk Das Wesen des Judentums im Laufe seines Lebens zweimal überarbeitet. Dies zeige, so Rothschild, daß er geistig flexibel war, offen für neues und für den anderen. »Daß er dabei nie kompromißlerisch wurde, das sollten wir von ihm lernen.«