von Rabbiner Shlomo Riskin
Was heißt G’tt fürchten? Dieser Schabbat, der auf das Fasten von Tischa B’Aw folgt, wird Schabbat des Trostes genannt. Der Begriff bezieht sich auf die Eingangsworte des prophetischen Textes: »Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer G’tt« (Jesaja 40,1). Wir lesen im Wochenabschnitt: »Kein anderer ist außer ihm« (5. Buch Moses 4,35) sowie: »Und das ist das Gebot, das sind die Gesetze und Rechtsvorschriften, die ich euch im Auftrag des Herrn, eures G’ttes, lehren soll und die ihr halten sollt [...] Wenn du den Herrn, deinen G’tt, fürchtest, indem du auf alle seine Gesetze und Gebote, auf die ich dich verpflichte, dein ganzes Leben achtest« (5. Buch Moses 6, 1-3). Wie kann es uns trösten, dem einzigen und alleinigen G’tt, den wir laut dem biblischen Text fürchten sollen, unbeirrbar zu dienen? Ich verstehe, wie wichtig es ist, G’tt zu lieben; aber mir fällt es schwer zu akzeptieren, dass ich Ihn fürchten soll.
Im Midrasch findet sich ein wunderbarer Vergleich, der uns hilft, die Tragweite des biblischen Gebots zu verstehen. Die Liebe ist eine allumfassende Emotion. Von meinen Eltern lernte ich zuerst, zu lieben und mich geliebt zu fühlen. Alle, die gelernt haben, eine solche Liebe zu empfangen und zu schenken, sind auch in ihrem weiteren Leben in der Lage, andere zu lieben. Ein gesunder Mensch – von der Exklusivität der sexuellen Beziehung in der Ehe einmal abgesehen – vermag zahlreiche Mitmenschen aufrichtig zu lieben. Danach erzählt der Midrasch die Geschichte von einem Mann, der direkt auf einen Hund zuläuft. Sein Freund versucht ihn aufzuhalten und ruft: »Du hast doch Angst vor Hunden, wieso läufst du dann auf den Hund zu?« Der bedauernswerte Mensch hält aber nicht an. Im Laufen wendet er sich zu seinem Freund um und ruft: »Weil mich aus der anderen Richtung ein Löwe verfolgt.« Meine Angst vor dem Löwen ist größer als meine Angst vor Hunden.
Die Furcht vor G’tt hat die Macht, einen Menschen wahrhaftig frei zu machen. Wer G’tt fürchtet, hat vor keinem Menschen Angst – sei es der Arbeitgeber oder ein totalitärer Führer. Er fürchtet nicht einmal denjenigen, dem er gefallen möchte, um beruflich voranzukommen. Der Einzige, dem er gefallen möchte, ist G’tt. Die Furcht vor ihm verhindert, dass der moralische Kompass eines Menschen den falschen Kurs anzeigt. Durch sie fühlt er sich frei und lebt wahrhaft menschlich, entgegen allen Schwierigkeiten, die seine Umgebung für ihn bereithalten mag.
Vor diesem Hintergrund möchte ich mich einer Passage aus dem Talmud zuwenden, die wir normalerweise an Tischa B’Aw studieren. Es ist die Stelle, an der die Gründe für die Zerstörung des Tempels genannt werden (Gittin 55 b, 56 a,b). Der Talmud erzählt die Geschichte einer Einladung zu einem festlichen Abendessen, bei der durch ein Missverständnis ein gewisser Barkamza, der Feind des Gastgebers, auf die Liste der geladenen Gäste geraten war. Der Gastgeber fordert seinen Feind auf, das Fest zu verlassen. Barkamza bietet ihm an, für seinen Anteil am Essen zu bezahlen. Dann will er die Kosten zur Hälfte übernehmen und schließlich für das ganze Fest bezahlen. Doch hilft das alles nicht.
Vor aller Augen von der Festtafel entfernt und zornig darüber, dass Rabbi Zecharia ben Avkulas, der auch dort gewesen war, keinen Ton gesagt hatte, beschloss der gedemütigte Barkamza, Verderben über die jüdische Gemeinde zu bringen. Er berichtet dem Kaiser in Rom, die Juden würden sich gegen ihn erheben. Als Beweis führt er an, dass die Priester des Tempels in Jerusalem jede Opfergabe des Kaisers, was immer es auch sei, zurückweisen würden. Der skeptische Kaiser gibt Barkamza ein ausgesucht feines Kalb. Barkamza sorgt daraufhin dafür, dass das Opferkalb am Maul oder an den Augen versehrt wurde – es handelte sich um einen Makel, der für die Römer ohne jede Bedeutung war, von den Hebräern normalerweise aber abgelehnt wurde.
Die zuständigen Tempelautoritäten wollen das Kalb zunächst trotz des Makels opfern, um jeden Streit zwischen dem römischen Kaiser und den Juden zu vermeiden. Rabbi Zecharia ben Avkulas spricht: »Sie werden sagen, wir hätten unreine Opfer auf unserem Altar dargebracht.« Daraufhin beratschlagen die Kohanim, ob es besser wäre, Barkamza vor seiner Rückkehr nach Rom umzubringen. Damit werde verhindert, dass er berichten könnte, dass das kaiserliche Opfer tatsächlich nicht dargebracht worden war. Raw Zecharia sagt weiter: »Sie werden sagen, dass Menschen, die ein Opfertier mit einem geringfügigen Makel versehen, von den Tempelpriestern getötet werden.« So bringen sie weder das Opfer dar, noch töten sie Barkamza.
Die römische Armee wird in Marsch gesetzt, den Tempel zu zerstören. Der Talmud kommt zu dem Schluss: »Raw Zecharias Demut war der Grund, dass unser Heiligtum verbrannt und unser Tempel zerstört wurde.« Rabbi Yitzchak Yedidyah Frankel, der frühere Oberrabbiner von Tel Aviv-Jaffa, bot die folgende Deutung an: Raw Zecharias Demut ist seine große Tragödie und einer der Gründe für sein eigenes Verderben und die Zerstörung des Tempels. Er ist wie gelähmt, unfähig, eine halachische Entscheidung zu treffen. Auf der einen Seite fürchtet er, was die Rechten sagen werden. Wenn er zulässt, dass das mit einem Makel behaftete Tier geopfert wird, würden sie den Heiligen Tempel des Liberalismus und Reformismus bezichtigen, weil ein verunstaltetes Tier geopfert wurde. Auf der anderen Seite hat er Angst vor dem, was die Linken sagen werden, wenn er zustimmt, dass der Informant umgebracht wird. Im Geiste sieht er alle möglichen Demonstrationen gegen eine Priesterschaft, die einen Menschen zum Tode verurteilt, nur weil er ein potenzielles Schlachtopfer verunstaltet hat. Und da er nicht den Mut aufbringt, zu seinen Überzeugungen zu stehen, und nicht begreift, dass ein wahrer Rabbiner nur danach strebt, allein G’tt zu gefallen, dass es einem wahren Rabbiner egal ist, was die verschiedenen politischen Fraktionen zu sagen haben, ist er die tatsächliche Ursache für die Zerstörung des Tempels.
Es ist der gleiche Zecharia ben Avkulas, der auf dem berühmten Fest zugegen war und schwieg, als der versehentlich Eingeladene aus dem Haus geworfen wurde. Warum schwieg er? Und was hatte ein Rabbiner bei einem solchen Festgelage zu suchen, vor allem in der Zeit vor der Zerstörung, die eine Zeit großer Armut in der unter hohen Abgaben leidenden judäischen Gemeinde war? Kann es sein, dass der Gastgeber ein wichtiger Gönner der Jeschiwa von Rabbiner Zecharia war? Vielleicht befürchtete Raw Zecharia, eine hohe finanzielle Zuwendung aufs Spiel zu setzen, wenn er den Gastgeber verärgerte.
Hier haben wir es eindeutig mit einem Rabbiner zu tun, der G’tt nicht wirklich fürchtete und daher große Angst vor dem Volk hatte. Ein Rabbiner, der wirklich frei ist, schaut nicht nach links und rechts. Er schielt nicht nach dem Reichtum. Er achtet nur auf das, von dem er wirklich glaubt, es sei der Wille G’ttes. Denn G’ttes Gedächtnis währt länger als das der Menschen.
Der Autor ist Rektor von Ohr Torah Stone und Oberrabbiner von Efrat, Israel.