German Djanatliev

»Was ich weiß, geb’ ich weiter«

Montags, dienstags, mittwochs und donnerstags unterrichte ich zusammen mit meinem Kollegen die Kinder unserer Gemeinde. Ich bin Religionslehrer in Nürnberg. Ich betreue Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 1 bis 7, 9 und 11. Der Unterricht beginnt zwischen 14 und 15 Uhr. Jeden Tag sind es zwei bis drei Gruppen. Die Kinder kommen gerne, weil sie etwas erfahren möchten. Sie wollen eine Antwort auf die Frage »Warum bin ich der, der ich bin?«.
Ich bin ein Mensch, der immer traditionell gelebt hat, ich bin ein konservativer Jude. Vor neun Jahren, damals war ich 18, kam ich mit meinen Eltern und meinen beiden Brüdern aus Dagestan, einer autonomen Republik der russischen Föderation im Kaukasus, nach Deutschland. Zuerst habe ich Sprachkurse besucht, dann holte ich an einem Kolleg das Abitur nach, denn mein russisches wurde nicht anerkannt. Anschließend fing ich in Heidelberg an der jüdischen Hochschule mit meinem Studium an. Außerdem schrieb ich mich an der Uni in Mittlere und Neue Geschichte ein. Beides auf Lehramt. Nach dem Grundstudium wechselte ich auf Magister, denn ich wollte später auch wissenschaftlich arbeiten. Aber mein Traum war sowieso, Religionslehrer zu werden. Das geht auch mit Magister.
Wir brauchen Religionslehrer, damit unser Volk nicht verschwindet. Gerade die Kinder in der Diaspora laufen Gefahr, sich zu assimilieren, und brauchen ständige Betreuung. Sie passen sich der Umgebung an in Kleidung, Frisur und Hobbys. Ohne Integration geht es nicht, doch Assimilation ist etwas, bei dem man seine Wurzeln verliert. Die Kinder sollen stolz bekennen: Ich bin Jude. Aber wie kann man sich zu etwas bekennen, wenn man nichts davon weiß? Deshalb bemühe ich mich, den Kindern etwas mitzugeben, woran sie zu Hause denken können. Sie sollen eine eigene Identität entwickeln. Wir zwingen die Kinder nicht zum Glauben. Es geht ums Lernen. Wenn mich die Schüler fragen: »Sollen wir glauben?«, dann antworte ich: »Nein, um Gottes Willen, fragt und zweifelt!«
Als ich nach Deutschland kam, hatte ich noch keine Pläne. Ich war total verzweifelt und fragte mich: Was passiert mit mir? Ständig ging ich in die Synagoge zum Gottesdienst, obwohl ich nichts verstand. Aber ich habe gemerkt: Ich komme nach Deutschland und sehe, dass da etwas lebt. Da habe ich angefangen, über meine Zukunft nachzudenken. Ich wollte mich selbst entdecken. Dafür hat das traditionelle Leben allein nicht ausgereicht. Ich habe nicht verstanden warum und wollte mehr davon wissen.
Das wollte ich eigentlich schon immer. Zu Sowjetzeiten konnte das Judentum in Dagestan gelebt werden. Es war fast schon so, dass auf die, die nicht in der jüdischen Tradition lebten, mit dem Finger gezeigt wurde. Man beging die Feiertage, es gab Schlachthäuser für koscheres Fleisch. Die Familien waren aber nicht orthodox, sondern einfach traditionell. Beschneidung, Barmizwa und Chuppa waren das Minimum – auch in assimilierten Familien, die nichts von Religion wissen wollten. Ich ging schon damals immer in die Synagoge und interessierte mich für alles. Ich suchte Antworten. Nur leider war der Rabbiner kaum fähig zu einem Gespräch.
Von klein auf interessierte ich mich auch für Geschichte, besonders für die der kaukasischen Bergjuden. Ich wollte wissen, warum sie eine andere Sprache und Kultur hatten. Mein Großvater konnte mir zwar Geschichten und Legenden erzählen, aber nichts Wissenschaftliches vermitteln. Als Jugendlicher war es deshalb mein Hobby, zu diesem Thema in Gemeindearchiven zu recherchieren. Ich habe Unterlagen gesammelt, viel gelesen, Oral-History gehört und eigene Forschungen betrieben. Das alles konnte ich für meine Magisterarbeit zum Thema »Historisch-ethnographische Entwicklung der Bergjuden im Kaukasus« nutzen. Ich war ein sehr zielstrebiger Student. Mein Hobby ist, mich geistig zu entwickeln. Ich beschäftige mich nicht gerne mit etwas, was ich schon kenne. Ich bin ein Mensch, der sich herausfordert, der immer lernen möchte, und bin nie beleidigt, wenn ich korrigiert werde. Deshalb habe ich dieses schwierige Thema für die Magisterarbeit gewählt.
Jetzt sitze ich am Exposé für meine Doktorarbeit. Das Thema soll lauten: »Legenden, Mythen und wissenschaftliche Forschungsergebnisse über die Herkunft der kaukasischen Juden«. Ich bin ein Nachtmensch, ich sitze spät abends am Schreibtisch und gehe nicht vor zwölf ins Bett. Und ich lese viel. Zu Hause habe ich eine Riesenbibliothek. Dort stehen die Bücher zwei Meter hoch in Zweierreihen. Zur Entspannung schmökere ich meist in historischen Romanen. Fantasy wie Harry Potter mag ich nicht. Hauptsächlich lese ich jüdische Philosophen, zur Zeit Ich und Du von Martin Buber und Das jüdische Gesetz von Erich Fromm. Meist fehlt mir die Geduld, ausschließlich ein einziges Buch von Anfang bis Ende zu lesen. Wenn ich einen Querverweis entdecke, gehe ich dem sofort nach und besorge mir das entsprechende Buch. Meist lese ich deshalb zehn bis zwölf Bücher parallel.
Wach werde ich in der Regel schon um 7 Uhr morgens. Um diese Zeit ruft mein einjähriger Sohn gewöhnlich nach seiner Mama. Den Vormittag verbringe ich dann mit familiären Angelegenheiten und der Unterrichtsvorbereitung. Oft fahre ich meinen Sohn im Park spazieren. Wickeln und ähnliche Dinge erledigt meine Frau. Ich habe sie vor drei Jahren auf einer Geburtstagsfeier kennengelernt. Sie kommt auch aus einer traditionell jüdischen Familie aus dem Kaukasus.
Freitags und am Schabbat bin ich im Jugendzentrum. Dass ich mit jungen Menschen arbeiten möchte, wurde mir schon während des Studiums klar. Ich will das, was ich gelernt habe, nicht behalten, sondern weitergeben. Anfang 2003, da war ich noch Student, wurde ich Religionslehrer in der Jüdischen Gemeinde Mönchengladbach. Ich musste am Anfang meine Angst bekämpfen. Doch es klappte gut, die Eltern waren begeistert. Noch heute bekomme ich Briefe und E-Mails von einigen Schülern.
Im Nürnberger Jugendzentrum versuchen wir, mit den jungen Menschen Judentum zu leben. Zum Beispiel begehen wir die jüdischen Feiertage gemeinsam. Durch die religiösen Lebenszyklen möchten wir den Kindern vermitteln, wie sie ihr Judentum leben können. Sie gehen dann nach Hause und bringen es ihren Eltern bei, die oft nur wenig davon wissen. Es wird aber auch Playstation gespielt, gekickert, getanzt und gefeiert. Und wir diskutieren über Ethik, über Hobbys und alles mögliche. Manchmal organisieren wir Partys und Discos mit anderen jüdischen Gemeinden. Das ist Austausch. Ich freue mich, wenn die Kinder sich treffen. Wenn wir sagen würden: »Kommt, um zu beten!«, käme niemand.
Auch für mich persönlich bedeutet Glück, dass mein Kind unsere Tradition und Geschichte kennt, und dass es meine Enkelkinder gut erzieht. Wenn die Enkelchen kommen und fragen: »Opa, kennst du diese Geschichte?«, werde ich »Nein« sagen, damit sie sie mir erzählen. Und dann werde ich der glücklichste Mensch auf der Erde sein.

Aufgezeichnet von Thomas Nagel

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