Jom Kippur

»Was hert sich?«

Am Sonntagabend wird’s spannend. Stehen uns schwarz-rote, schwarz-gelbe, rot-grüne oder vielleicht schwarz-grüne Zeiten bevor? Wenn Punkt 18 Uhr die Wahl-
lokale schließen, muss sich der Souverän nur noch wenige Minuten gedulden – bis er endlich das Ergebnis der ersten Hochrechnung erfährt.
Fromme Juden allerdings werden just um diese Zeit in die Synagoge gehen und an ganz andere Dinge denken, denn es ist Erew Jom Kippur. An so einem Abend verzichtet selbst das hippste Jugendzentrum auf Public Viewing. Doch ein Dilemma sei das nicht, sagt der Dortmunder Rabbiner Avichai Apel. »Das öffentliche Leben geht auch mal ohne uns weiter.« Es sei wichtig, dass der Mensch lernt, sich zu gedulden.
Schleswig-Holsteins Landesrabbiner Walther Rothschild pflichtet seinem Kollegen bei: »Wenn Jom Kippur beginnt, sind die Würfel längst gefallen, und das Ergebnis kann niemand mehr ändern.« Die wenigsten Juden in Deutschland seien so stark in die Politik verwickelt, dass sie das Wahlergebnis sofort erfahren müssten. »Das ist pure Neugier« – etwas, das der Mensch gerade in diesen Tagen bezähmen sollte. Allerdings gibt Rothschild zu bedenken, dass in einer Demokratie jeder das Bedürfnis haben sollte, zu wissen, was passiert.
»Ich habe mir extra Briefwahlunterlagen schicken lassen, um an Erew Jom Kippur nicht ins Wahllokal gehen zu müssen«, sagt die Berliner Rabbinerin Gesa Ederberg. »Aber ans Ergebnis habe ich damals nicht gedacht«, überlegt sie. Dass sie es erst am Montagabend, wenn Jom Kippur zu Ende ist, erfahren wird, glaubt sie indes nicht. »Man wird wohl kaum die Ohren verschließen, wenn man zufällig die Nachrichten mitbekommt«, sagt sie. Im Übrigen habe sie ja eine Tageszeitung abonniert, und ob da am Montagmorgen wirklich niemand aus der Familie hineinschauen werde, glaubt sie kaum. Vermutlich ist der Zwiespalt am Sonntag weit weniger groß als heute befürchtet, denn: »Es ist eine gute Tradition, dass in der Synagoge getratscht wird«, sagt Ederberg und lacht. »Selbst wenn man vorher nichts mitbekommen hat, wird man spätestens in der Synagoge das Wahlergebnis erfahren.«
Auch der Düsseldorfer Rabbiner Julien Chaim Soussan sieht das Bethaus als Kollegium von Presseagenturen: »Die besten Neuigkeiten gibt’s eh in der Synagoge«, sagt er. Es lohne sich wirklich hinzugehen, gerade am Wahlabend. Dann erzählt er den bekannten Witz von Bill Clinton, dem früheren US-Präsidenten, der sich darüber wundert, dass sein jüdischer Berater im
mer auf dem neuesten Stand ist. »Das meis-
te hab ich aus der Synagoge«, sagt der. Denn dort sei der am häufigsten gesprochene Satz: »Was hert sich?« Also verkleidet sich Clinton und geht am Abend incognito in die Synagoge. Als er seinen Nachbarn fragt: »Was hert sich?«, sagt der zu ihm: »Pscht, heit nicht! Man sagt, Clinton ist hier.«
Düsseldorfs Rabbiner hält Erew Jom Kip-
pur für einen idealen Wahltermin. »Anders als an Rosch Haschana schauen wir an Jom Kippur nach vorn. Das passt gut: Wir beten dafür, dass es uns im neuen Jahr besser gehen möge.« Ob es uns gutgeht oder nicht, habe schließlich auch etwas damit zu tun, wer hierzulande regiert, sagt Soussan. »Auch wenn wir die erste Hochrechnung nicht live am Bildschirm miterleben, werden wir über die Wahl sprechen. Schließlich geht sie uns alle an.« Tobias Kühn

Kultur

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