von Sylke Tempel
Unter New Yorkern heißt das Viertel im Stadtteil Brooklyn längst schon »Little Odessa«. Hier in Brighton Beach hängen russischsprachige Zeitschriften an den Kiosken aus und in den Restaurants wird der beste Borscht der Stadt serviert. Allein in New York leben 300.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Auch in Israel sind die etwa 1,1 Millionen »Russen« nicht zu übersehen. Mit der größten Einwanderungswelle seit der Entstehung des jüdischen Staates entstanden russischsprachige Fernsehsender und Theater. In Städten wie Aschdod oder Nazareth Ilith spricht man mehr russisch als hebräisch.
Seit 1991 emigrierten etwa 200.000 russischsprachige Zuwanderer nach Deutschland, das seit 2002 als Ziel noch vor Israel und den USA rangiert. Außerhalb der jüdischen Gemeinden, in denen russischsprachige Zuwanderer oft die Mehrheit stellen, bleibt diese Gruppe aber fast unsichtbar. Entstehen in Deutschland keine »Parallelwelten«? Sind die Zuwanderer besser integriert als in den USA und Israel?
Israelische, amerikanische und deutsche Forscher spürten auf Anregung des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Potsdam genau dieser Frage nach. »Building a Diaspora. Russian Jews in Israel, Germany and Israel« heißt die Studie, die jetzt vorgelegt wurde. Um das wichtigste Ergebnis gleich vorwegzunehmen: der Schein trügt. »Ghettos« sind kein Zeichen für mangelnde Integration.
Russischsprachige Zuwanderer bilden zwar in allen drei Ländern starke Netzwerke und verfügen über ein ausgeprägtes Identitätsgefühl. In allen drei Ländern verstehen sie sich in erster Linie als »zugehörig zum jüdischen Volk« und in zweiter Linie als »Russen«. Was nicht ethnisch bedingt ist, sondern kulturell. Überhaupt zeichnen sich die »Russen« durch ein ausgeprägtes Interesse an Kultur und außerordentlich hohe berufliche Qualifikationen aus. Erst an dritter Stelle rangiert die territorial bedingte Identität als Israeli, Amerikaner oder Deutscher. Man lebe ja schließlich in diesen Ländern. Nur ist die Verbindung mit den USA oder Israel trotz einer starken Identität als »russischer Jude« wesentlich stärker als die Verbindung zu Deutschland. Nur ein einziger für die Studie befragter russischer Zuwanderer gab an, sich an erster Stelle als Deutscher zu fühlen. In Israel waren es immerhin etwa 20 und in den USA zehn Prozent. Eine große Mehrheit versteht sich problemlos als jüdische Russen und als Amerikaner oder Israeli. Hierzulande hingegen finden es die Zuwanderer außerordentlich schwer, sich mit Deutschland zu identifizieren.
Nicht nur das. Israel und die USA verfolgen zwar eine höchst unterschiedliche Einwanderungspolitik. In den USA sind hauptsächlich Nicht-Regierungs-Organisationen dafür zuständig, Immigranten beim Erwerb der Sprache oder der Suche nach Arbeit und Unterkunft Starthilfe zu gewähren. Die Staatsbürgerschaft und damit die Möglichkeit der aktiven Teilnahme am politischen Leben können Einwanderer nach drei Jahren erwerben. In Israel hingegen garantiert das »Rückkehrrecht« den sofortigen Erhalt der Staatsbürgerschaft; staatliche Hilfe fließt reichlich. Dennoch ähneln sich die Ergebnisse. Russischsprachige Zuwanderer mögen vielleicht in beiden Ländern noch nicht das Einkommensniveau der Mehrheitsgesellschaft erreicht haben und oft in Berufen arbeiten, die ihren Qualifikationen nicht angemessen sind. Aber sie haben Arbeit und gelten als durchaus erfolgreich. In Deutschland hingegen fließt staatliche Hilfe ebenfalls reichlich, und das Ausbildungsniveau der Einwanderer ist ebenso hoch wie in den USA und Israel. Trotzdem sind 40 Prozent der »Russen« in Deutschland arbeitslos.
Die Studie basiert zu einem großen Teil auf etwa 300 (Deutschland und USA) bis 700 (Israel) standardisierten Interviews, die im Zeitraum zwischen Herbst 2003 und Sommer 2004 durchgeführt wurden. Weil die Fragen auf klare Aussagen abzielen, bleibt wenig Raum für rein subjektive Auskünfte. Warum und in welchem Maß sich diese Zuwanderer ihrer »Gastgesellschaft« anpassen, wird transparent. Die historischen, soziologischen oder ökonomischen Faktoren aber, die zum Erfolg oder Scheitern einer Einwanderung beitragen, können in solchen Fragebögen nicht umfassend berücksichtigt werden.
Natürlich, konzidieren die Autoren der Studie, fällt jüdischen Einwanderern die Anpassung in einem jüdischen Staat oder einem Land mit einer augesprochen selbstbewußten jüdischen Minderheit wie den USA viel leichter als in Deutschland. Warum sollten sich Juden mit dem Land der Täter identifizieren? Erst in jüngster Zeit versteht man sich in Deutschland als Einwanderungsland. Gut gemeinte Maßnahmen, wie die Verteilung der Zuwanderer nach einem Schlüssel, müssen nicht erfolgreich sein. So nämlich schnitt man sie von einem Netzwerk und potentiellen Arbeitsmöglichkeiten . Auch die im Vergleich zu Israel und den USA schlechtere Wirtschaftslage in Deutschland bekommen vor allem die Einwanderer zu spüren.
Es wäre an der Zeit, aus den gewonnenen Erkenntnissen konkrete Schlüsse zu ziehen, fordert Julius Schoeps, Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums. (vgl. Interview Seite 1) Schon die Anerkennung der beruflichen Qualifikationen wäre hilfreich. Eine deutsche Übersetzung der ebenso sorgfältigen wie ausführlichen Studie wäre auch nicht von Schaden.
eliezer ben rafael und andere: Building a Diaspora. Russian Jews in Israel, Germany and the USA. Brill (Leiden, Boston) 2006, US $ 120.00