Durchsetzt
von Anetta Kahane
Neulich hat mir ein DDR-Offizieller erzählt, dass es Juden, die in den Westen zurückkehrten, passieren konnte, dass ihr Restitutionsantrag von dem gleichen Beamten bearbeitet wurde, der schon ihre Enteignung abwickelt hatte; so etwas hätte in der DDR nicht passieren können, sagte der Mann. Ja, habe ich geantwortet, das konnte in der DDR nicht passieren, weil dort ein Jude keinen Rückgabeantrag stellen konnte. Antisemitismus war zwar nicht Bestandteil der Staatsräson, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der DDR antisemitische Politik betrieben wurde. Man kann schon in den frühen 50er-Jahren ein systematisches Misstrauen des Staates sowohl gegenüber religiösen wie kommunistischen Juden nachweisen; es gab eine komplette »Judenliste« in der SED. Am prominentesten ist der Fall Paul Merker: 1950 aus der Partei ausgeschlossen, weil er für Entschädigungen eintrat, 1952 verhaftet und 1955 als »zionistischer Agent« ins Zuchthaus gesteckt.
Der systematische Antisemitismus in der DDR drückte sich zum Beispiel in unterschiedlichen Rentenhöhen für jüdische und kommunistische Opfer des Nationalsozialismus aus. Den Juden wurde indirekt eine Mitschuld an ihrem Leid gegeben: Sie hätten ja nicht, wie die Kommunisten, gegen den Faschismus gekämpft, sondern sich ihrem Schicksal ergeben.
Bei all dem wähnte sich die SED auf der marxistisch sicheren Seite: Der Faschismus galt in der Definition von Georgi Dimitroff, Generalsekretär der Komintern, als »die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanz- kapitals«. Das Finanzkapital war also, laut Dimitroff, letztlich schuld am Faschismus. Zwar außerhalb der Definition, aber doch leicht erkennbar, ist diese Behauptung antisemitisch konnotiert: Man denkt an den »reichen Juden«, den »jüdischen Banker«. Das erinnert an Karl Marx. In seiner Schrift Zur Judenfrage schreibt er: »Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unsrer Zeit.« Weiter heißt es da: »Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.« Das heißt nichts anderes, als dass die Juden kulturell nicht integrierbar seien. Sie müssten aufhören, Juden zu sein. Abgesehen von den antisemitischen Stereotypen, haben Marx und Engels solches von keiner anderen kulturell-ethnischen Gruppe verlangt.
Auf diesem ideologischen Boden argumentierte die DDR, dass die Juden ja keine Nation oder Volk seien, sondern bloß eine Religion bildeten. Dieser Blick auf Juden hatte Auswirkungen auf die Ehrung der Opfer des Holocaust: Die Juden wurden unter den Gruppen der Ermordeten einfach nicht aufgelistet. Die seien ja Staatsbürger mit einer bestimmten Religion, hieß es. Aber jüdische Holländer wurden ja nicht ermordet, weil sie Holländer waren! Dass es die Juden waren, die ganz gezielt zu Opfern der Nazis wurden, verschwieg man systematisch. Ihr Andenken wurde gelöscht und abgelöst durch eine instrumentalisierte Geschichtsbetrachtung, die der Rechtfertigung der DDR als antifaschistischem Staat diente. Diese ideologisierte Erinnerung wurde benutzt, um im Kalten Krieg die Rolle des moralisch Überlegenen gegenüber dem von Nazipräsenz durchzogenen westdeutschen Staat zu spielen. In der DDR hat man auch nicht Nationalsozialismus gesagt, sondern Faschismus. Und: Es gab in der DDR wenige Wörter, die so oft verwendet wurden wie »national«und »sozialistisch«.
Die ideologische Basis der DDR, ihre deutsche Geschichte und ihre Bevölkerung, die nach dem Ende des Krieges keinesfalls von einem anderen Stern, sondern aus dem gleichen Deutschland der Täter und Mitläufer kam, waren so etwas wie das Betriebssystem, auf dem Antisemitismus fortgeschrieben, betrieben und ignoriert wurde. Als Folge zeigten sich sehr unterschiedliche Formen des Antisemitismus, die in ihrer Empathielosigkeit gegenüber den Opfern, dem Judentum, Israel und dessen stereotypisierter, brachialer und irrationaler Ablehnung seinesgleichen suchten. War die DDR also ein antisemitischer Staat? Ja und nein. Nein, weil der Antisemitismus nicht zur Staatsräson gehörte. Ja, weil die reale Staatspolitik immer von Antisemitismus durchsetzt war.
Ausnahme
von Nora Goldenbogen
Ich denke in dieser Pauschalität kann man das nicht sagen. Erstens ist das eine Frage der verschiedenen historischen Phasen des Staates DDR, die man detailliert betrachten muss. Zweitens war der Antisemitismus in der DDR keine Staatsdoktrin. Deswegen bin ich vorsichtig, wenn es heißt, die DDR sei ein antisemitischer Staat gewesen. Außerdem besteht die Gefahr, damit die auf Antisemitismus beruhenden Menschheitsverbrechen der Nazis zu nivellieren.
Es gab Phasen in der DDR-Geschichte, in denen Antisemitismus in der politischen Ausrichtung eine Rolle gespielt hat. Vor allem zwischen 1949 und 1953, während der spätstalinistischen »Säuberungen« in der SED und im Staatsapparat. Die hatten zur Folge, dass politische Funktionäre nach ihrer Biografie, nach ihren Verbindungen ins westliche Ausland und nach ihrer jüdischen Herkunft beurteilt wurden. In dieser Phase kann man durchaus von judenfeindlichen Zügen in der Politik sprechen. Hier sei als ein Beispiel der antisemitische »Slansky-Prozess« erwähnt.
Die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949 beurteile ich allerdings anders. Die Anfänge sahen Antifaschismus als Grundkonsens vor. Die Auseinandersetzung, warum der Antisemitismus zu den Grundlagen der NS-Ideologie gehörte, warum antisemitische Klischees so tief im Denken vieler Menschen verwurzelt waren, wurde allerdings auch damals schon viel zu selten geführt. In Bezug auf die Haltung der politischen Führung der DDR gegenüber dem Staat Israel ist allerdings unübersehbar, dass deren Richtung sehr bald vordergründig durch den außenpolitischen Kontext des Ost-West-Konfliktes, des eskalierenden Kalten Krieges diktiert wurde. Israel galt nicht mehr in erster Linie als Heimstatt der Juden, sondern als imperialistischer Staat, als Verbündeter der USA, als Teil der feindlichen westlichen Welt. Für die politische Führung der DDR bedeutete das eine einseitige Parteinahme für die arabischen Staaten. In den Medien dominierte eine ebenso einseitige Berichterstattung. Und oft wurde dabei deutlich, dass antisemitische Klischees in den Köpfen weiterlebten.
Was die Situation der jüdischen Gemeinden im Osten Deutschlands betrifft, so sollte man auch hier historisch korrekt bleiben. Kurz nach 1945, als sich die ersten Gemeinden wieder gegründet hatten, gab es ein sehr enges Miteinander mit den jeweiligen Landesverwaltungen. Es gab Unterstützung und Akzeptanz. Viele Funktionäre der jüdischen Gemeinden waren davon überzeugt, dass es notwendig war, einen gemeinsamen Neuanfang zu wagen. Ein grundsätzliches Problem aber nahme zu: dass der kommunistische Widerstand mehr zählte als die »bloße« Verfolgung. In der Phase der stalinistischen »Säuberungen« gab es Repres-salien, berufliche Einschränkungen und Verhaftungen politi- scher Funktionäre. Viele Juden verließen in den Jah- ren 1952-1953 die DDR. Die Gemeinden schrumpften. Andererseits gab bis zum Ende der DDR eine ausreichende finanzielle Unterstützung für die jüdischen Gemein- den. Die Ausübung der Religion war gewährleistet, auch wenn sie nicht besonders gefördert wurde. Spätestens seit Ende der 60er-Jahre wurden die Gemeinden auch gesellschaftlich wieder stärker wahrgenommen. Probleme traten dann auf, wenn aus den Gemeinden und ihren Vorständen kritische Äußerungen zur Politik der DDR oder zur Haltung des Staates gegenüber Israel kamen. Aber ich weiß nicht, ob diese Konflikte unter dem Begriff Antisemitismus zu subsumieren sind, oder ob sie nicht eher etwas damit zu tun haben, dass gesellschaftliche Kritik und unterschiedliche Meinungen zu politischen Fragen von vielen Verantwortungsträgern in der DDR nicht zugelassen wurden.
Es fehlte in den verschiedenen politischen und staatlichen Machtebenen des SED-Staates vielen Verantwortlichen an Wissen, Sensibilität und Mut zur eigenen Meinung, auch wenn es um den Umgang mit jüdischer Tradition, Religion und Geschichte ging. Ich denke aber, man muss generell sorgfältig mit dem Begriff Antisemitismus umgehen, damit die Auseinandersetzung wirkungsvoll bleibt.
Unbedingt sollte aber noch ein generelles Defizit erwähnt werden, das die Geschichte der DDR durchzieht: die unzureichende Beschäftigung mit dem Juden- tum, sowohl im Schulunterricht als auch an den Universitäten. Das ist bis heute zu spüren. Ähnliches gilt für die Auseinandersetzung mit dem historischen Phänomen des Antisemitismus, seinen Wurzeln und Erscheinungsformen. Hier haben wir immer noch großen Nachholbedarf.