Leo Baecks Leben

Vorurteilsfrei offen

von Elias H. Füllenbach

Er ist der Sohn und Enkel von Rabbinern. Leo Baeck wurde am 23. Mai 1873 in Lissa, dem heutigen Leszno, in der preußischen Provinz Posen geboren. Er stammte aus einer angesehenen Rabbinerfamilie: Seine beiden Großväter hatten Gemeinden in Böhmen und Mähren betreut, und auch sein Vater Samuel Bäck war ein bekannter jüdischer Gelehrter, der 1864 die Rabbinerstelle in Lissa angetreten hatte und Verfasser einer beliebten Geschichte des jüdischen Volkes war. Über Leo Baecks Mutter Eva ist dagegen nur wenig bekannt. Gewiss hat sie aber entscheidend zu dem gleichermaßen religiösen wie offenen Klima beigetragen, in dem Leo Baeck und seine zehn Geschwister groß wurden. Die außergewöhnlich aufgeschlossene Haltung der Eltern, die auch guten Kontakt zu den christlichen Geistlichen der Stadt pflegten, hat Baeck sein Leben lang geprägt.
Nach dem überaus erfolgreichen Abschluss des Gymnasiums begann Leo Baeck im Mai 1891 ein Studium am Jüdisch-Theologischen Rabbinerseminar in Breslau. Zwei Jahre später wechselte er an die Berliner Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, die maßgeblich von Vertretern des liberalen Judentums geprägt wurde. Gleichzeitig besuchte er auch Kurse am orthodoxen Lehrhaus der Stadt, um »verschiedene theologische Richtungen kennenzulernen«, wie er später betonte. Dieses vorurteilsfreie Interesse für die unterschied- lichen Richtungen des Judentums stieß bei seinen Berliner Kommilitonen auf Unverständnis – und auch später als Rabbiner blieb Leo Baeck mit dieser Haltung eine Ausnahme. Denn obwohl er selbst dem liberalen Judentum angehörte, konnte Baeck auch andere Positionen und Überzeugungen respektieren, selbst wenn sie seiner eigenen Auffassung widersprachen.
Weniger ungewöhnlich ist dagegen, dass Leo Baeck bereits in Breslau ein zusätzliches Universitätsstudium der Philosophie begonnen hatte, das er auch nach seinem Wechsel nach Berlin mit Hilfe eines Stipendiums der Mendelssohn-Stiftung fortsetzte und 1895 mit einer Dissertation über »Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland« abschloss. Schon in dieser bis heute unterschätzten Arbeit offenbarte Baeck eine selbstbewusste und unabhängige Position, die sich in allen seinen religionsphilosophischen Werken weiterverfolgen lässt.
Sie wurde nur wenige Jahre später einem breiteren Publikum vor Augen geführt, als sich Baeck öffentlich gegen den protestantischen Kirchenhistoriker Adolf von Harnack wandte, der im Wintersemester 1899/1900 an der Berliner Universität eine vielbeachtete Vorlesungsreihe über das »Wesen des Christentums« gehalten und dabei die jüdische Religion in übler Weise herabgesetzt hatte. Baeck setzte der antijüdischen Haltung Harnacks eine glänzende Verteidigung des Judentums entgegen, die 1905 unter dem Titel Das Wesen des Judentums als Buch erschien und rasch Verbreitung fand. Damit löste er eine öffentliche Kontroverse aus, die sich über Jahre hinzog, auch wenn sich die meisten christlichen Theologen jedem wissenschaftlichen Gespräch verweigerten und an ihren judenfeindlichen Zerrbildern festhielten.
Zu Beginn dieser Auseinandersetzung mit Harnack, die Baeck in ganz Deutschland bekannt machte, hatte er gerade erst seine erste Stelle als Gemeinderabbiner in Oppeln angetreten. In der kleinen liberalen jüdischen Gemeinde der oberschlesischen Stadt lernte er auch Natalie Hamburger, eine Enkelin seines Amtsvorgängers Adolf Wiener, kennen. Im Oktober 1899 heirateten sie, und ein Jahr später kam ihre Tochter Ruth zur Welt.
1907 zog die Familie nach Düsseldorf. Die dortige jüdische Gemeinde zählte bereits über 3.000 Mitglieder. Allerdings hatte die damals viel diskutierte Frage, ob es in einer Synagoge eine Orgel geben dürfe, in Düsseldorf zur Abspaltung einer orthodoxen Gruppe geführt, die sich seitdem zu eigenen Gottesdiensten in einem kleinen Betsaal traf. Als ein Mann des Ausgleichs sollte Baeck zwischen den unterschiedlichen Richtungen vermitteln und ein weiteres Auseinanderbrechen der Düsseldorfer Gemeinde verhindern, was ihm auch gelang. Die Wohnung der Familie Baeck entwickelte sich zu einem wichtigen kulturellen Treffpunkt der Stadt, an dem Juden und Nichtjuden zusammenkamen.
1912 siedelte Baeck mit seiner Frau und seiner Tochter schließlich nach Berlin über. Als Leiter der großen Berliner Gemeinde und als Feldrabbiner im Ersten Weltkrieg bekam er zunehmend Antisemitismus zu spüren, der sich in den Jahren der Weimarer Republik weiter ausbreitete. Angesichts der zunehmend bedrohlichen Anfeindungen von außen erschien es Baeck umso wichtiger, die innere Einheit des Judentums über alle bestehenden Differenzen hinweg zu sichern. So verwundert es nicht, dass Leo Baeck mit seiner ausgleichenden Haltung 1922 zum Vorsitzenden des Allgemeinen Rabbinerverbandes in Deutschland, einige Jahre später zum Präsidenten der deutschen B’nai-B’rith-Loge sowie zum Vorsitzenden der Zentralwohlfahrtsstelle der jüdischen Gemeinden und 1933 schließlich zum Präsidenten der Reichsvertretung der Deutschen Juden gewählt wurde. Obwohl ihm während der NS-Zeit mehrmals das Angebot gemacht wurde, aus Deutschland zu emigrieren, weigerte sich Baeck, seine verfolgte Gemeinde zu verlassen, bis er selbst im Januar 1943 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde. Bis zuletzt hatte er sich für die Auswanderung möglichst vieler eingesetzt und auch die Kindertransporte nach England mitorganisiert.
In Theresienstadt musste er zunächst den Abfallkarren durch die Straßen des Lagers ziehen. Als ihm diese demütigende Arbeit mit seinem 70. Geburtstag erlassen wurde, widmete er sich fortan ganz der seelsorgerischen Betreuung der Mitgefangenen. Trotz der Ansteckungsgefahr ging Baeck täglich in den Quarantäneblock und blieb auch nach der Befreiung des Lagers durch sowjetische Truppen zunächst noch bei den sterbenden Typhuskranken, um sie tröstend zu begleiten. Erst danach, Anfang Juni 1945, reiste er nach England, wo ihn seine Tochter mit ihrer Familie erwartete. Seine Frau Natalie war bereits 1937 in Berlin gestorben.
Leo Baeck verließ Deutschland als ein zutiefst verletzter Mann, der von nun an seine ganze Kraft in die Erhaltung und Verbreitung jüdischen Wissens setzte. Er engagierte sich in der World Union for Progressive Judaism, lehrte in der Londoner Society for Jewish Studies sowie am Hebrew Union College in Cincinnati und hielt zahlreiche Vorträge. Mit großem Interesse nahm Baeck von England aus das Entstehen neuer jüdischer Gemeinden in Deutschland zur Kenntnis. Die Entscheidung, im Land der Täter zu bleiben, konnte er zunächst nicht nachvollziehen, doch bei seinen späteren Besuchen in Deutschland ermutigte er seine jüdischen Zuhörer, ein neues Gemeindeleben aufzubauen. Zugleich unterstützte Baeck die Bemühungen um ein erneuertes christlich-jüdisches Verhältnis.
Leo Baeck starb am 2. November 1956 in London. Mit Ernst Ludwig Ehrlich ist vor zwei Wochen einer seiner letzten Schüler gestorben. Aber Leo Baecks Schriften werden bis heute gelesen. Viele jüdische Organisationen und Forschungsinstitute tragen seinen Namen und erinnern damit an einen der größten jüdischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts.

Der Autor ist Dominikanerpater in Düsseldorf und Mitherausgeber der im vergangenen Jahr im Gütersloher Verlagshaus erschienenen Biografie »Leo Baeck. Eine Skizze seines Lebens«.

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