von Wladimir Struminski
Mit dem Frieden in Nahost ist es wie mit dem Ungeheuer von Loch Ness. Viele glauben daran. Die meisten haben sogar eine klare Vorstellung von ihm: Versöhnung, Aufschwung und ein besseres Leben für jedermann. Es gibt auch Fotos, die man zumindest für Vorboten des Friedens halten kann. Ein Händedruck auf dem Rasen vor dem Weißen Haus.
Die Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo. Präsidenten, Regierungschefs und Könige, die sich bei internationalen Konferenzen Schulter an Schulter ablichten lassen. Also drängt der wohlwollende Beobachter: Sucht den Nahostfrieden. Irgendwo, in der Tiefe, unter der Oberfläche des Krieges, des Terrors und der Gewalt ist er bestimmt zu finden. Den Gedanken, daß der Frieden, wie man ihn in den letzten Jahrzehnten aus Westeuropa kennt, im Nahen Osten keine Heimstätte hat, scheint niemand ernsthaft in Betracht zu ziehen. Wer einen Nahostfrieden dennoch für alles andere als unausweichlich hält, wird von der herrschenden Meinung als Defätist zusammengestaucht, wenn nicht gar als Extremist verdammt. Dennoch: Ganz so abwegig sind die Zweifel an der Friedenszukunft der Region nicht. Mehr noch: Mit dem arabisch-israelischen Konflikt beziehungsweise mit der israelischen Besatzung arabischer Gebiete hat das nur am Rande zu tun. Schließlich ist es nicht so, daß die anderen nahöstlichen Länder in tiefstem Frieden miteinander lebten. Hauptgrund dafür ist die innere Struktur einer Region, die den Krieg in die Politik integriert und jederzeit denkbar macht.
Die Unantastbarkeit der Grenzen, in Europa ein Grundstein des Friedens, ist im Nahen Osten keine allgemeine Norm. Das gilt nicht nur für das Existenzrecht des jüdischen Staates, den seine Feinde zu liquidieren suchen, sondern auch für die Unabhängigkeit anderer Länder. Es ist beispielsweise kein Zufall, daß Syrien den Libanon bisher nicht offiziell anerkannt hat. Nach syrischer Lesart ist der Libanon ein durch die Kolonialherren von syrischem Gebiet getrenntes, künstliches Gebilde, das grundsätzlich mit dem Mutterland wiedervereinigt werden sollte. Für Groß-Syrien-Ideologen gehört auch Jordanien dazu. Im September 1970 griffen syrische Panzertruppen jordanisches Gebiet an, doch wurde der schwächere Nachbar letztendlich vor einer Annexion bewahrt. Weniger Glück hatte zwei Jahrzehnte später Kuwait, als es vom Irak besetzt und als »19. Provinz« einverleibt wurde.
Zudem werden die regionalen Beziehungen durch die innere Labilität der Staaten kompliziert. Machtwechsel in Nahost sind nicht mit der Abwahl einer demokratischen Regierung
in Europa zu vergleichen, die nichts an der Kontinuität der Staatsform und der Staatsverantwortung ändert. Damit ist der Grundsatz pacta sunt servanda keine Selbstverständlichkeit. Im Iran hat sich die islamische Revolution seinerzeit einfach über die Verpflichtungen des Vorgängerregimes hinweggesetzt. Als die fundamentalistische Hamas im palästinensischen Quasistaat Anfang dieses Jahres die Regie- rungsverantwortung übernahm, lehnte sie die Anerkennung der Osloer Verträge, auf deren Grundlage die palästinensische Selbstregierung ein gutes Jahrzehnt zuvor entstanden ist, ab. Unter solchen Umständen können Friedensverträge nur mit dem jeweiligen Regime, nicht aber mit dem betreffenden Staat geschlossen werden. Das gilt auch für Israels vielgepriesene Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien. Falls das Regierungssystem von Ägyptens Präsident Hosni Mubarak den irgendwann fälligen Abgang des Chefs von der politischen Bühne nicht überlebt, wäre der Friedensvertrag möglicherweise Makulatur. Seine Aufkündigung gehört jedenfalls zu den Hauptforderungen der ägyptischen Opposition. Ähnlich verhält es sich mit Jordanien: Sollte das haschemitische Königshaus von einer islamistischen oder nationalistischen Regierung abgelöst werden, wäre die Zukunft der seit 1994 bestehenden Friedensbeziehungen höchst ungewiß. Diese Möglichkeit ist für Israels Führung ein Alptraum, auch wenn über den Sturz des Königshauses aus außenpolitischer Rücksichtnahme von offizieller Seite nicht öffentlich spekuliert wird.
Darüber hinaus stellt die innere Zerrissenheit einiger Nahoststaaten nicht nur ihre politische Handlungsfähigkeit, sondern zum Teil auch ihre Existenz in Frage. Im Libanon ist die Religion oft wichtiger als die Zugehörigkeit zur libanesischen Nation. Wohin das führen kann, hat die schiitische Hisbollah gezeigt. Mit ihrer Politik gegen Israel hat sich die Miliz nach dem Empfinden vieler christlicher, drusischer und sunnitischer Libanesen über die Interessen des Staates hinweggesetzt.
Heute scheinen selbst ein Griff der Nasrallah-Truppe nach der politischen Macht und die Entstehung eines Mini-Iran vor Israels Haustür nicht mehr ausgeschlossen zu sein. Wer kann sich da auf die erhoffte Friedensbereitschaft von Regierungschef Fuad Siniora verlassen? Auch Jordaniens Einheit könnte eines Tages durch den Ge- gensatz zwischen der angestammten und der palästinensischen Bevölkerung gefährdet werden. Die möglichen Konsequenzen solcher Spannungen sind jetzt schon im Irak sichtbar: Die dort wirkenden Zentrifugalkräfte, von den Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden über die zerstörerische Frustration der Sunniten bis hin zu schiitischem Islamismus mit iranischen Einflüssen drohen den Staat zu zerreißen.
Diverse Gruppenloyalitäten setzen das Nationalgefühl wie den Rechtsgehorsam im Zweifelsfall außer Kraft. Das gilt nicht nur in ethnischer und religiöser Hinsicht, sondern ebenso auf der Ebene des Stammes oder der Großfamilie. Wie wird ein Soldat oder Polizist handeln, wenn er auf einen wegen Drogenanbaus, staatsfeindlicher Aktivitäten oder Terrorismus gesuchten Angehörigen seines eigenen Clans trifft? Eine Auslieferung an die Staatsorgane ist keine Selbstverständlichkeit. Wer in Nahost die Treue zur Großsippe bricht, verstößt gegen die sozialen Spielregeln. Und ein ehrenhafter Mann tut so etwas nicht. Im Gegenzug erwartet er von der Stammes- oder Sippengemeinschaft Schutz vor anderen Gruppen oder vor der Obrigkeit. Der weitverbreitete, illegale Waffenbesitz hilft den Gruppen, ihre Schutzrolle auszuüben. Er höhlt aber staatliche Gewalt aus.
Hinzu kommt, daß die gewaltgetränkten Machtstrukturen im Nahen Osten die Liquidierung politischer Gegner zu einem üblichen Mittel der Auseinandersetzung macht. Das zeigte beispielsweise die im syrischen Auftrag erfolgte Ermordung des libanesischen Ex-Ministerpräsidenten Rafik Hariri. Als der auf libanesische Unabhängigkeit pochende Politiker dem Damaszener Regime zu unbequem wurde, konnten ihn weder sein internationales Ansehen noch seine Milliarden retten. Die Waffen der Attentäter richten sich auch auf »Verräter«, die einen Ausgleich mit Israel anstreben. Im Oktober 1981 wurde der ägyptische Präsident Anwar Sadat für den Frieden mit Israel mit dem Tod bestraft.
Zwar konnte seine Ermordung den Friedensvertrag mit Israel nicht mehr aus den Angeln heben, doch wirkt sie in der ganzen Region bis heute als eine düstere Warnung gegen »Verrat« nach.
Die rauhe politische Landschaft des Nahen Osten sollten sich all jene vor Augen führen, die Israel so unermüdlich zum Abschluß von Friedensverträgen mit den Palästinensern, Syrien und dem Libanon aufrufen. Das gilt auch für den von Saudi- Arabien im Rahmen seiner Friedensinitiative in Aussicht gestellten Ausgleich zwischen Israel und allen arabischen Staaten.
Wohl wahr: Eine Beilegung des Konflikts mit seinen Nachbarstaaten wie mit der arabischen Welt insgesamt liegt selbst dann in Israels Interesse, wenn sie nicht der Idealvorstellung entspricht und wird von der Regierung in Jerusalem auch angestrebt. Allerdings wäre ein solcher Nahostfrieden, so die betroffenen arabischen Führungen sich dazu grundsätzlich entschließen, mit der Lage Europas nicht vergleichbar. Angesichts der Realität in dieser Weltgegend muß Israel stets an die Gefahr denken, daß der Frieden aufgekündigt oder, wie es Jassir Arafat bereits im Ansatz vorexerziert hatte, zur Fortsetzung des Kampfes gegen den jüdischen Staat mißbraucht wird. Daher will der militärische Rückzug aus dem Westjordanland und von den Golanhöhen sorgfältig überlegt sein. Wie schnell geräumte Gebiete zu Angriffsbühnen gegen Israel verwandelt werden können, hat sich sowohl im Südlibanon als auch in dem 2005 von Israel auf- gegebenen Gasa-Streifen gezeigt. Mit dem Vorsatz allein, einmal verlassene Landstriche bei verteidigungspolitischer Notwendigkeit wieder zu erobern, können sich die Jerusalemer Entscheidungsträger nicht ohne weiteres ins Friedensexperiment stürzen. Nicht nur die Wiederbesetzung, sondern jegliches militärische Vorgehen wäre ein kostspieliges Unterfangen – selbst wenn ein kristallklarer Kriegsgrund vorläge. Diese Erfahrung haben die Israelis bereits gemacht. Vor vier Jahren geriet das Land an den Pranger internationaler Politik, als es in der West Bank gegen die Infrastruktur des Selbstmordterrorismus vorging.
Während des jüngsten Libanonkrieges wiederum mußte Israel hohe Gefallenenzahlen und einen wochenlangen Raketenbeschuß des Landesnordens in Kauf nehmen.
So ist es nicht verwunderlich, daß die Friedenshoffnung in Israel einen Tiefpunkt erreicht hat. Statt rosiger Zukunftsvisionen wünschen sich die meisten Bürger von der Politik ein realistisches Konfliktmanagement. Dafür bekommt man zwar keine Einladung zur Preisverleihung in Oslo, geht aber auch nicht in Loch Ness baden.