tschechien
Tomas Kraus hat einen ansteckenden Optimismus. »Zu uns kommen auch jetzt noch Leute, die gerade erst herausgefunden haben, dass ihre Vorfahren Juden waren«, sagt er. »Und die wollen dann wissen, was das für sie bedeutet.« Kraus ist Geschäftsführer der tschechischen Föderation der jüdischen Gemeinden, in der zehn Gemeinden organisiert sind.
»Wir haben hohe Zuwachsraten«, sagt Tomas Kraus, »aber bei den 3.000 Juden im ganzen Land fällt das in absoluten Zahlen gar nicht so stark auf.« Mehr als die Hälfte der Juden lebt in Prag. Kraus geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl der Juden zwei- bis dreimal höher liegt, aber viele entweder nichts von ihren Wurzeln wissen oder damit nichts anfangen können.
Doch viele wenden sich dem Judentum zu, für sie gibt es regelmäßige Veranstaltungen, die sie heranführen sollen. Das zeitigt schon jetzt die ersten Ergebnisse: Zur Wendezeit lag das Durchschnittsalter in den jüdischen Gemeinden bei 70, heute liegt es bei 50 Jahren – und aus den sechs Gemeinden im Jahr 1989 sind inzwischen zehn geworden. Tomas Kraus schwärmt sogar von einem »regelrechten Philosemitismus«. In der Öffentlichkeit fänden die Gemeinden stets Gehör, und wenn es zu Nazi-Demonstrationen komme, sei die Solidarisierung mit der jüdischen Gemeinschaft groß. Eine aktuelle Umfrage scheint dieses positive Bild zu bestätigen. »Wen möchten Sie am liebsten als Nachbarn haben?« hieß es, und die Juden landeten an zweiter Stelle – gleich nach den Slowaken, den Brüdern aus der früheren Tschechoslowakei. Kilian Kirchgessner
ungarn
Wie in allen sozialistischen Ländern standen religiöse Angelegenheiten in Ungarn unter ständiger Beobachtung der Staatsmacht. Doch 1988 konnte sich die erste alternative jüdische Organisation Osteuropas, der ungarische-jüdische Kulturverein, gründen. Als landesweit wichtigstes Organ der jüdischen Gemeinschaft fungierte bis 1989 die Landesvertretung der Ungarischen Israeliten (MIOK). Seither hat die jüdische Gemeinschaft, die viertgrößte in Europa, einen starken Aufschwung erfahren. Schätzungen gehen von bis zu 90.000 Ungarn aus, die sich heute zum Judentum bekennen. Etwa 90 Prozent davon leben in Budapest. In etlichen Städten, in denen lange Zeit keine jüdischen Familien mehr lebten, entstanden Gemeinden.
Seit 1989 wurden viele Synagogen und Friedhöfe im Land renoviert, jüdische Zeitungen und Magazine gegründet. Auch immer mehr junge Menschen bekennen sich zu ihrem Judentum. In Budapest gibt es zwei jüdische Kindergärten, vier Schulen, und das alte Rabbinerseminar ist eine jüdische Universität. Im April 2004 wurde die erste Holocaust-Gedenkstätte eröffnet.
Dennoch treten mit dem Erstarken rechtsradikaler Gruppierungen im Zuge der schon langandauernden ungarischen Regierungskrise und der wirtschaftlichen Probleme des Landes auch antisemitische Strömungen wieder deutlich in Erscheinung. Andreas Bock
polen
Nach der Wende 1989 hatten viele Polen ihre jüdischen Wurzeln wiederentdeckt, sich den wenigen jüdischen Gemeinden im Lande angeschlossen und für deren Wiederbelebung gesorgt. Jüdische Schulen entstanden, Sommercamps, Kulturvereine und Stiftungen. Die Kulturzeitschrift Midrasz gab dem intellektuellen Judentum in Polen ein neues Gesicht. Von einer Renaissance sprachen viele. Doch die große Ernüchterung kam 2002.
Bei der Volkszählung bekannten sich lediglich 1.100 Personen zu einer jüdischen Identität. Dabei sind rund 3.000 Personen in jüdischen Kulturvereinen und Gemeinden organisiert. Doch auch dies ist bei einer Bevölkerungszahl von rund 38 Millionen Polen weniger als ein Promille. Zurzeit gibt es nur noch sieben jüdische Gemeinden in ganz Polen, die im orthodoxen Bund jüdischer Gemeinden organisiert sind.
Doch im Leben polnischer Juden spielt die Religion nicht unbedingt die wichtigste Rolle. Das Wiederfinden der eigenen jüdischen Identität steht im Vordergrund. So sind seit 1989 zahlreiche neue Organisationen entstanden – vom Verein jüdischer Veteranen über die Kinder des Holocaust bis hin zu Stiftungen, die sich um das jüdische Kulturerbe kümmern.
Doch insbesondere in den ehemaligen deutschen Gebieten ist die Hoffnung groß, dass sich eines Tages die deutschen Juden an ihre Vorfahren und deren Gräber in Schlesien, Pommern, West- und Ostpreußen erinnern werden. Die polnischen Juden jedenfalls, die diese Gräber heute allein instandhalten, könnten Hilfe gut gebrauchen. Gabriele Lesser
slowakei
Es hat viele Jahre gedauert, bis sich die jüdische Gemeinschaft in der Slowakei geöffnet hat: Erst jetzt allmählich beendet der Zentralverband der jüdischen Gemeinden die Abschottung, die er zum Selbstschutz auch nach der Wende noch aufrechterhalten hat. Jugendverbände etwa entstehen nach ihrer Schließung durch die Nationalsozialisten erst jetzt wieder, das Gleiche gilt für B’nai B’rith, die in den beiden größten Städten der Slowakei vertreten ist – in der Hauptstadt Bratislava und in Kosice.
Etwa 800 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde Bratislava, in Kosice sind es 700. Wie viele Juden es insgesamt in der Slowakei gibt, ist schwer festzustellen. Bei der jüngsten Volkszählung, die allerdings auch schon acht Jahre her ist, bekannten sich 2.310 Slowaken zum Judentum. 1949 gab es noch knapp 7.500 Juden im slowakischen Landesteil der Tschechoslowakei. Dass die jüdischen Gemeinden erst zwei Jahrzehnte nach der »Samtenen Revolution« anfangen, sich aktiver ins gesellschaftliche Leben einzubringen, liegt an den traumatisierenden Erfahrungen aus dem Kommunismus – und daran, dass viele Mitglieder schon zu Wendezeiten betagt waren und nicht mehr die Energie für einen Neuanfang hatten. Die Gründung von Klubs für Jugendliche, so hoffen die slowakischen Juden, kann die nächste Generation enger an die Gemeinden binden. Kilian Kirchgessner
rumänien
Wäre nicht 1989 der Fall des Ceausescu-Regimes in Rumänien erfolgt, ließe sich heute möglicherweise keine jüdische Gemeinschaft mehr im Land finden. Die kommunistischen Machthaber sicherten der Minderheit zwar Religionsfreiheit zu, aber pro jüdischem Ausreisewilligen kassierte das Regime ein stattliches Kopfgeld. Als 1989 die Wende kam, zählte die Gemeinschaft lediglich nur noch zwei Prozent ihrer früheren Mitglieder. Heute gibt es in Rumänien weniger als 8.000 Juden, rund die Hälfte von ihnen lebt in Bukarest.
Jüdische Kindergärten und Schulen, Gottesdienste, ein eigener Verlag, ebenso eine Monatszeitschrift sollen das Religions- und Kulturleben erhalten. Einfach ist das nicht, meint der 31-jährige Shlomo Sorin Rosen, Rabbiner für die jüdischen Gemeinden in Rumänien. Junge Juden beispielsweise gibt es nur wenige Hundert im gesamten Land. Und die kümmern sich um die Alten. Hinzu kommt, dass die Juden in Rumänien über ein reiches Denkmalerbe verfügen: Über 85 Synagogen gibt es und über 800 Friedhöfe – sie alle zu unterhalten, lässt jedoch das Gemeinschaftsbudget nicht zu. »Unsere finanziellen Sorgen halten uns von unserer Identitätssuche ab, die wir so dringend bräuch- ten«, meint Sorin Rosen.
Offiziell wird zwar der rumänische Anteil am Holocaust immer noch verschwiegen, andererseits ist die jüdische Gemeinschaft im Parlament vertreten. Ein politisches Recht, das Rumänien jeder seiner 19 Minderheiten im Land zusichert, eine Einmaligkeit in Osteuropa. Bei den Wahlen im Herbst 2008 erhielt der jüdische Parlamentskandidat mehr als zwei Mal so viel Stimmen, als es Juden im Land gibt. Annett Müller
bulgarien
Rechtzeitig zu ihrem 100-jährigen Jubiläum wurde die Synagoge in Sofia fertig renoviert. Es ist die größte Synagoge auf dem Balkan – ein Hinweis auf den einst stattlichen Umfang der jüdischen Gemeinde. Doch anders als in anderen europäischen Ländern ist es nicht dem Holocaust geschuldet, dass von den 50.000 Juden heute nur noch ein Bruchteil in Bulgarien lebt. Die bulgarischen Juden waren während des Zweiten Weltkriegs nicht an die Deutschen ausgeliefert worden. Doch gingen in der Anfangsphase des kommunistischen Regimes 45.000 von ihnen nach Israel. Dabei hatte die Kommunistische Partei die Existenz einer jüdischen Organisation toleriert. »Doch ein religiöses Leben gab es kaum«, erzählt Maxim Benvenisti, Vorsitzender von »Shalom«, der Organisation der Juden in Bulgarien. Nach der Wende 1989 zählte die jüdische Gemeinde ungefähr 5.000 Menschen.
Einige gingen auch nach Israel, andere bekannten sich jetzt erst zum Judentum. So begann der Neuaufbau. 1990 wurde »Shalom« gegründet. Neue Jugend-, Sport- oder Frauenvereine bildeten sich. Seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es auch eine staatliche Schule, in der Hebräisch unterrichtet wird.
Benvenisti sieht die Zukunft seiner Gemeinde deswegen sehr positiv. Auch in den vielen gemischten Ehen orientierten sich die nichtjüdischen Ehepartner stark an der jüdischen Gemeinde. »Assimilierung funktioniert bei uns andersherum«, sagt er lachend. »Es ist nicht schwer, mit einem guten Angebot positiv aufgenommen zu werden in einer Gesellschaft, die in vielen Bereichen mit einem Vakuum konfrontiert ist.« Simone Böcker