Jüdinnen in Deutschland

Vorhang auf

von Ayala Goldmann

Unprätentiös, nicht von persönlicher Eitelkeit getrieben und sozial engagiert: Mit Lala Süsskind steht seit dieser Woche zum ersten Mal eine Frau an der Spitze der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Dass die Erwartungen an die langjährige WIZO-Aktivistin so gewaltig sind, hängt nicht nur mit dem desaströsen Zustand der größten jüdischen Gemeinde Deutschlands zusammen, sondern auch mit Fähigkeiten, die traditionell eher Frauen als Männern zugeschrieben werden: Brüche zu kitten, Wogen zu glätten und das Wohl der Gemeinschaft stärker im Blick zu haben als das scheinbare Prestige, das der Vorsitz einer jüdischen Gemeinde in Deutschland mit sich bringen kann.
Womöglich sind die Berliner Hoffnungen berechtigt. Natürlich sind Frauen weder die besseren Menschen noch die besseren Juden. Doch seit Jahren wächst die Zahl der weiblichen Vorsitzenden jüdischer Gemeinden. Unter anderem in Bielefeld, Oldenburg, Braunschweig, Dortmund, Göttingen und Kassel haben Jüdin- nen den Hut auf. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Doch generell ist das Bild ermutigend: Frauen, so hört man, seien in der Gemeindearbeit weniger profilierungs- und streitsüchtig, arbeiteten konzentrierter und erfolgreicher in der Integration der Zuwan- derer. Gerade in kleineren Gemeinden kommt es darauf an, dass die Mitglieder sich persönlich verstanden und angesprochen fühlen – eine Stärke der Frauen. Zwar nimmt die Zahl der weiblichen Führungskräfte ab, je dünner die Luft wird, Charlotte Knobloch, die Präsidentin des Zentralrats der Juden, einmal ausgenommen. Unter den Vorsitzenden der Landesverbände oder in den anderen Gremien sind Frauen immer noch deutlich in der Minderheit. Dennoch könnte auch hier gelten, was die Vorsitzende einer Gemeinde im Norden Deutschlands sagt: »Ein ausgewogenes Mann-Frau-Verhältnis führt dazu, dass sich alle besser benehmen.« Nicht nur in der Berliner Gemeinde ist es vor allem der rüde Tonfall, der viele Juden vor einem Engagement zurückschrecken oder an Austritt denken lässt.
Eine deutsche Merkwürdigkeit aber bleibt, dass die Zahl der weiblichen Gemeindevorsitzenden in den vergangenen Jahren stetig gestiegen ist, die Gleichberechtigung im Gottesdienst jedoch eine Forderung der Liberalen bleibt. In den USA sitzen Frauen und Männer in den meisten Synagogen selbstverständlich nebeneinander. Rabbinerinnen, Kantorinnen und weibliche Mohalot (Beschneiderinnen) gehören fest zum Gemeindeleben, ihre Autorität wird nicht in Frage gestellt. In Deutschland gibt es genau eine (!) fest angestellte Gemeinderabbinerin und eine einzige (!) Gemeindekantorin – beide in Berlin. In den meisten jüdischen Gottesdiensten hierzulande werden Frauen nicht zur Tora aufgerufen. Die Mechize, der Vorhang, oder das Gitter zwischen den Geschlechtern ist immer noch fester Bestandteil vieler Synagogen. Oder: Die Frau- en werden auf die Empore verbannt. Und wenn sie auf eine zivile Eheschließung verzichten und rabbinisch heiraten, kann es ihnen im Fall der Scheidung passieren, dass sie Jahre auf den Scheidebrief warten müssen – den nur der Mann ausstellen darf. Das orthodoxe Jerusalemer Oberrabbinat wirft seine Schatten bis nach Deutschland – und auch andere Bewegungen geben deutschen Jüdinnen ein konkretes Beispiel, wie verheiratete jüdische Frauen auszusehen haben: mit Scheitel und Perücke, wie in Polen im 16. Jahrhundert.
Dennoch können auch Frauen in orthodox geprägten Gemeinden ihren Einfluss stärker nutzen. Weibliche Minjanim und Rosch-Chodesch-Gottesdienste, meint zumindest eine Gemeindevorsitzende, würden von orthodoxen Rabbinern nicht automatisch boykottiert. Einen Versuch wäre es in manchen Gemeinden sicherlich wert. Die Aktivistinnen der liberalen jüdischen Bewegungen wiederum sollten mehr Verständnis für die Gefühlslage vieler jüdischer Frauen aufbringen, denen Religion einfach nicht wichtig genug ist, um für die Gleichberechtigung der Frau in der Synagoge zu kämpfen. Das bedeutet ja nicht, dass diese Frauen auf Einfluss im Gemeindeleben oder auf ihre Berufstätigkeit verzichten wollen. Im Gegenteil. Und gerade Frauen, die ehrenamtlich in den Gemeinden arbeiten, weil ihr finanzieller Hintergrund ihnen dieses Engagement erlaubt, kennen die Bedürfnisse anderer Frauen oft sehr gut – und werden hoffentlich die Ersten sein, die sich für die Gründung, den Ausbau oder die Sanierung von Gemeinde-Kitas einsetzen – auch für Kinder unter drei Jahren. Denn die Gräben zwischen orthodoxen und liberalen, zwischen berufstätigen und ehrenamtlich arbeitenden Frauen sind diejenigen, die in den jüdischen Gemeinden wohl noch am einfachsten zu schließen sind.

Die Autorin ist Print- und Hörfunkjournalistin in Berlin. (vgl. auch Seiten 3 und 17)

Gemeinden

Ratsversammlung des Zentralrats der Juden tagt in München

Das oberste Entscheidungsgremium des jüdischen Dachverbands kommt traditionell einmal im Jahr zusammen – am letzten Sonntag im November

 24.11.2024 Aktualisiert

Berlin

Nan Goldin eröffnet Ausstellung mit Rede über Gaza-Krieg

Die umstrittene Künstlerin nennt Israels Vorgehen »Völkermord« – »propalästinensische« Aktivisten schreien Museumsdirektor nieder

 23.11.2024 Aktualisiert

Erfurt

CDU, BSW und SPD legen in Thüringen Koalitionsvertrag vor

Wegen der Außenpolitik des BSW ist das Bündnis umstritten

 22.11.2024

Debatte

So reagiert die EU auf die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant

Bei einem Besuch in Jordanien hat sich der EU-Außenbeauftragte Borrell zum Haftbefehl gegen Israels Regierungschef Netanjahu geäußert - mit einer klaren Botschaft

 21.11.2024

USA: »Wir lehnen die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für die Situation grundsätzlich ab«

 21.11.2024

Niederlande: Wir würden Netanjahu festnehmen

 21.11.2024

Haftbefehl gegen Netanjahu: Kanada will Gericht folgen

 21.11.2024

Berlin

Scholz soll am Montag als Kanzlerkandidat nominiert werden

Nach dem Verzicht von Verteidigungsminister Boris Pistorius soll Bundeskanzler Olaf Scholz am kommenden Montag vom SPD-Vorstand als Kanzlerkandidat für die Neuwahl des Bundestags nominiert werden

von Michael Fischer  21.11.2024

New York

USA blockieren Gaza-Resolution, Israel bedankt sich

Israels UN-Botschafter Danon: »Resolution war Wegbeschreibung zu mehr Terror und mehr Leid«

 21.11.2024