Wir wohnten im ersten Stock eines großen Gebäudes am Maxtorgraben 25, (...) das einen sehr großen unbebauten Hof mit Hintergebäuden und Lagerhäusern hat. Gegen drei Uhr morgens fuhren wir, meine Frau und ich, aus dem Schlafe auf. Vor der Haustüre hörten wir entsetzliches Gebrüll, im Dunklen sah ich einen Haufen Menschen vor dem Hause stehen, an allen Klingeln wurde geläutet, und Stimmen schrien: »Aufmachen, sofort aufmachen.« Ich rief sofort das Polizeipräsidium an und sagte nach Nennung meines Namens: »Ein Pöbelhaufen versucht in mein Haus einzudringen.« – »Sind Sie arisch?« fragte eine weibliche Stimme. »Nein« antwortete ich. Die Verbindung wurde hierauf von ihr ohne weitere Bemerkung abgebrochen.
flucht Inzwischen hatten die Leute vor dem Hause die Türfüllungen durchbrochen. (...) Sie stürmten die Treppen hinauf zunächst in die oberen Stockwerke. Wir waren allein in der Wohnung, da wir uns wegen der bekannten Dienstbotenschwierigkeiten für Juden schon lange ohne Hilfe zurechtfinden mussten. (...) Wir hörten jammervolle Schreie auf der Treppe, offenbar wurde ein jüdischer Nachbar – wir erkannten seine Stimme – misshandelt.
»Wir wollen um keinen Preis in ihre Hände fallen.« Meine Frau war es, die diesen Entschluss zuerst fasste. Mehr spielerisch hatten wir uns vorher manchmal überlegt, wie man wohl aus unserer Wohnung bei etwaiger drohender Verhaftung entkommen könne. Danach handelten wir jetzt. Wir verriegelten die Wohnungstür, dann die Türe zu unserem Schlafzimmer mit anschließender Garderobe, banden die Leinentücher zusammen und befestigten sie am Fensterkreuz. (...) Schon hörten wir, wie auch die Wohnungstür eingeschlagen wurde. Das Fenster der Garderobe geht auf eine schmale Gasse, gegenüber einem Hopfenlager. Vor ihm, gegenüber dem Fenster, war ein Vordach, etwas niedriger, so dass zwischen ihm und dem Fenster die Gasse noch etwa zweieinhalb Meter frei bleibt. Rasch entschlossen warf ich eine Matratze auf das Vordach, wagte den Weitsprung hinüber, warf die Matratze auf die Erde hinab und sprang hinunter. Oben drangen die Leute in die Wohnung. Meine Frau glaubte sich nicht auf das Halten des Fensterkreuzes und die Leintücher verlassen zu können. Plötzlich hing sie mit den Fingern angeklammert am Fenstergesims, ließ los und stürzte glücklicherweise in meine Arme, der ich unmittelbar unter ihr auf der hinabgeworfenen Matratze stand. Ich fiel natürlich mit meiner Last hin, aber die Matratze schwächte den Fall ab. Wir waren gerettet. Die Höhe, aus der sich meine Frau fallen ließ, ist die normale eines ersten Stockes. Ich schätzte sie auf etwa zehn Meter. Alles spielte sich in wenigen Sekunden ab.
Wir waren natürlich nur notdürftig bekleidet. Die Nacht war glücklicherweise mild. Während oben in unserer Wohnung und in allen anderen jüdischen Wohnungen des Anwesens ein fürchterliches Krachen von fallenden Möbelstücken und beständiges Klirren von Glas und dergleichen gehört wurde, liefen wir über den großen Hof im Schatten der Lagergebäude hinter das Hinterhaus, in dem einige ärmere Leute wohnen, brachen Latten aus einem Zaun, schlüpften hindurch, bis wir in einem offenen Schuppen landeten, wo Weihnachtsbäume lagerten, unter denen wir uns frierend bargen. Das Toben und Krachen im Vorderhaus hielt noch Stunden an. Als der Morgen dämmerte, klopfte ich im Hintergebäude bei einer dort wohnenden christlichen Familie an, auf deren Treue wir uns verlassen konnten. Wir erfuhren, dass die Meute unsere Wohnung verlassen hatte, und wir kehrten in unser Heim zurück.
trümmer Es bot sich ein unbeschreiblicher Anblick. Wir wateten in den Zimmern förmlich durch Trümmer und Scherben. Spiegel und sämtliches Geschirr wa- ren zerschlagen. Die sämtlichen Schränke waren umgestürzt und mit Stuhlbeinen und Äxten zertrümmert worden, meine Bilder, auf die ich stolz war, darunter wertvolle Ölgemälde, waren zerschnitten. Die Füllung der aufgerissenen Polstermöbel flog in der ganzen Wohnung umher. Kein Stuhl, kein Tisch mehr ganz. Auf dem Radioapparat war man offenbar mit Stiefeln herumgetreten. Meine Frau hatte sich bereits für unsere Auswanderung ausgestattet. Ihr hatte man sechzehn Kleider, fast durchweg neu, zerschnitten. Einige Schmuckstücke, die sie im Schlafzimmer zurückgelassen hatte, fanden sich aber unter den Trümmern. Gestohlen hatte man nicht. Ich konnte im Verlauf des Tages feststellen, dass in gleicher Weise in meiner Kanzlei in der Karolinenstraße 16 gehaust worden war, alle Schreibmaschinen waren gänzlich zerschlagen wie auch das sonstige Mobiliar. Die Akten waren in allen Räumen zerstreut oder gänzlich zerrissen.
tote In der ganzen Stadt boten die meis-ten jüdischen Wohnungen den gleichen Anblick. Namentlich waren aber alle Läden vollständig demoliert. Bald hörte man aber noch viel traurigere Botschaften. Am Nachmittag des Vortages hatte meine Frau drei Jugendfreundinnen bei sich gesehen, mit denen sie sich regelmäßig einmal im Monat traf. Der Ehemann der einen war in dieser Nacht vor den Augen seiner Frau erschlagen worden, sie selbst lag mit schweren Verletzungen im Gesicht im Krankenhaus. Der Ehemann der zweiten war im Gesicht und am Kopf verletzt worden, schwebte Monate lang zwischen Leben und Tod und behielt als dauernde Folge eine Lähmung des einen Armes und erhebliche Sprachstörungen, der Ehemann der dritten aber war aus seiner Wohnung geholt worden und befand sich auf dem Transport nach Da-chau ins Konzentrationslager. (...) Eine Freundin von uns war mit ihrem dreijährigen Töchterlein allein. Die Barbaren drangen auch in das Kinderzimmer und zerbrachen vor dem weinenden Kind mit höhnischen Worten seine Puppen und Spielsachen. Dann sagten sie zu der Mutter: »Deinen Balg kannst du im Jordan ersäufen.« (...) Ein anderer Bekannter lag nach tags zuvor erfolgter an sich ungefährlicher Bruchoperation noch unter den Folgen der Narkose und verbunden im jüdischen Krankenhaus in Fürth. Polizeibeamte kamen, ihn zwecks Abtransportes nach Dachau zu holen. Sie befahlen ihm aufzustehen. Er musste gehorchen und brach nach einigen Minuten, vom Herzschlag gerührt, tot zusammen. Allein in der Straße, wo der oben erwähnte Todesfall des Mannes einer Freundin meiner Frau sich ereignet hatte, waren drei Männer erschlagen worden. Überall hörte man von Selbstmorden, begangen in der Verzweiflung. (...)
In der gleichen Nacht waren mehr als 300 jüdische Männer verhaftet worden, ferner fast die gleiche Zahl in Fürth. Alle von ihnen, die unter 58 Jahren waren, kamen nach Dachau, die anderen, darunter der 78-jährige Vorstand der Kultusgemeinde, blieben etwa eine Woche im Nürnberger Vollstreckungsgefängnis. (...) Nach Monaten erst kamen die in Dachau Internierten zurück.