von Ferda Ataman
Sechs türkische Mütter und eine deutsche Sozialpädagogin sitzen an einem Kindertisch auf Kinderstühlen. »Ich bin Esra, und ich mache dieses Programm, damit meine Kinder etwas lernen«, sagte eine der Frauen. Sie trägt Kopftuch. Auf der Postkarte, die sie hochhält, ist ein Flugzeug zu sehen ist. Das Motiv habe sie ausgesucht, weil sie vor kurzem das erste Mal in ihrem Leben geflogen ist – um nach Deutschland zu kommen. Sie sei sehr froh, sagt die 26jährige. Sie spricht brüchig Deutsch, wechselt immer wieder in ihre Muttersprache. Ihre Kinder sollen es leichter haben, Deutsch lernen. Vor den Frauen sind Mappen und Bücher aufgeschlagen. An den Wänden hängen gebastelte Schmetterlinge und Ballons. Was hier in Fürth in der Atmosphäre eines Kindergartens passiert, könnte ein effektiver Weg aus der deutschen Integrationsmisere sein: HIPPY. Das steht für »Home Instructions for Parents of Preschool Youngsters« – ein in Israel entwickeltes Bildungsprogramm für Familien mit Vorschulkindern.
Die Vorstellungsrunde mit Postkarten ist die erste Übung für heute. Sie fällt manchen sichtlich schwer. »Diese HIPPY-Gruppe steht noch ganz am Anfang«, erklärt Hilde Nägele. Die Pädagogin macht diese Arbeit seit sechs Jahren. Sie hat die Teilnehmerinnen schon zu Hause besucht, aber es ist eines der ersten Gruppentreffen. Die Sozialpädagogin moderiert gemeinsam mit einer türkischen »Hausbesucherin«. »Ich bin jetzt die Mutter und du das Kind«, sagt Hilde zu Ilknur. Hilde liest vor, und Ilknur beantwortet mühsam die Fragen, die ihr zur Geschichte gestellt werden. Warum wollte Karin das Stachelschwein nicht streicheln? »Weil es schdahellig ist, pickt und au macht.« Hilde nickt und liest ihr die richtige Antwort vor, ohne Belehrung. Die Gruppe probiert solche Übungen im Rollenspiel aus. Später sollen die Mütter sie mit ihren Kindern machen, 15 Minuten am Tag, das reicht.
Das Prinzip ist simpel. Einrichtungen, die HIPPY anwenden wollen, erwerben von der Zentrale an der Hebräischen Universität Jerusalem eine Lizenz. Dafür gibt es das nötige Übungsmaterial. Dazu benötigt man eine »Hausbesucherin« – eine Mutter, die denselben ethnischen Hintergrund wie die ihr zugewiesenen Familien hat und schon mal an dem Programm teilgenommen hat. Ein professioneller Sozialpädagoge wird vor allem zur Betreuung der Hausbesucherinnen gebraucht, der Rest funktio- niert per Schneeballeffekt. Die Pädagogin übt mit der Hausbesucherin, die wiederum besucht wöchentlich die Familien und übt mit einem Elternteil. Dieser widmet sich dann jeden Tag mit der Aufgabe den Kindern. Meistens sind es Mütter, die das tun.
Bei den Treffen der Mütter, die alle zwei Wochen im Beisein der Pädagogin stattfinden, werden neue Übungshefte angefangen, Rollenspiele erprobt und pädagogisches Wissen vermittelt. Manchmal lernen die Mütter etwas über gesunde Ernährung, manchmal, wie man damit umgeht, wenn das Kind falsche Antworten gibt. Bei diesen Treffen können die Mütter Erfahrungen austauschen. Und durch die Gruppendynamik soll ein wenig Druck ausgeübt werden.
Die Erfolge seien groß, sagt Christine Schubert, Vorsitzende von HIPPY-Deutschland. Von 1991 bis 2004 haben 3.140 Familien an HIPPY teilgenommen. Es gäbe kaum Abbrecher und die Mund-zu-Mund- Propaganda in den Einwanderermilieus führe etwa bei der Arbeiterwohlfahrt in Nürnberg, die das Programm trägt, zu langen Wartelisten. Insgesamt wird HIPPPY in 14 deutschen Städten angeboten, weitere sollen folgen. Die Nürnbergerin Schubert ist stolz, zu den ersten zu gehören, die HIPPY nach Deutschland gebracht haben. »Grundschullehrer erkennen HIPPY-Kinder sofort«, sagt sie zufrieden. Die Besonderheit des Programms liegt in der »Gehstruktur« – man »geht« in die Familien. »Damit erreichen wir die, die nicht kommen«, sagt Schubert. Nicht nur, daß es Kinder und Eltern fördert, es bringt auch die Hausbesucherin weiter, die, einmal geschult, das zweijährige Programm mit den Familien durchläuft. Eine der ersten türkischen Hausbesucherinnen habe bei den vergangenen Kommunalwahlen kandidiert. Selbstbewußtsein sei das zentrale, oft erreichte Ziel.
HIPPY ist in Deutschland ein reines Integrationsprogramm und als solches 2002 vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau ausgezeichnet worden. Dennoch sieht es Christine Schubert als Möglichkeit, auch sozial benachteiligten deutschen Familien zu helfen, so wie in Israel, das HIPPY auch in alteingesessenen Familien praktiziert. Leider sei die Finanzierung schon für Migrantenfamilien schwer. Mühsam müsse jedes Jahr wieder um die Mittel gekämpft werden. Dabei kostet das Programm pro Familie lediglich 100 Euro im Monat. Dann zitiert Schubert den Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, James Heckmann: »Je jünger ein Kind ist, desto mehr bringt jeder Dollar, den man präventiv für Bildung einsetzt.«
Avima Lombard, die israelische Erfinderin des Programms, versteht die Familie als ersten, wichtigsten Lernort für Kinder. Daher sei es wichtig, daß die Familie ihre Kinder schon vor der Schule aufs Lernen vorbereitet. HIPPY hilft Kindern zwischen vier und sechs Jahren, Sprachkenntnisse zu erwerben, aber auch ihre kognitiven und feinmotorischen Fähigkeiten zu entwickeln. Seit den 80er Jahren expandierte die Idee als Lizenzprogramm auch in andere Länder. Vor allem in den USA hat die Begeisterung des damaligen Gouverneurs Bill Clinton und seiner Frau dazu geführt, daß heute 16.000 Familien von HIPPY erreicht werden, zum Teil in der abgewandelten Form PAT (»Parents as Teachers«). In Deutschland gibt es HIPPY seit 1991, zunächst als Modellprojekt in Bremen und Nürnberg, das sich so gut bewährt hat, daß es fest in die Programme der kommunalen Integrationspolitik aufgenommen wurde.
Spätestens die PISA-Studie machte es deutlich: Zu viele Kinder aus Zuwandererfamilien haben Sprachdefizite, und sozial schwache Familien bringen ihre Kinder nur in den seltensten Fällen auf eine akademische Laufbahn. »Auf diese Probleme ist HIPPY die Antwort«, so die Eigenwerbung des deutschen Ablegers.
Um Antworten geht es auch bei Hildes Gruppentreffen in Fürth. »Auf dem Stuhl oder neben dem Stuhl?« Keine leichte Frage für einige der Mütter. Doch die lernwilligen Frauen haben sich arrangiert mit den Übungen. Geduldig lassen sie sich den Unterschied zwischen »neben« und »auf« erklären. Und wer es sich nicht merken kann, macht es wie Esra: »Ich lese meinem Sohn immer auf deutsch vor, auch wenn ich es nicht verstehe – er versteht es schon.«