von Micha Guttmann
Ich liebe das Pessachfest. Es erinnert mich an mein Elternhaus, an Sederabende mit Familie und Freunden, an traditionelle Gerichte und an viel Lachen – trotz ernster Ermahnungen der Erwachsenen beim Vorlesen aus der Haggada. Schon die Zeit kurz vor dem Fest war aufregend. Der Einkauf der Mazzekartons und der anderen für das Fest speziell koscheren Lebensmittel weckte kindliche Aufmerksamkeit auf die kommenden Feiertage. Und die Suche nach dem letzten Krümel gesäuerten Brotes im Haus, den die Eltern speziell versteckt hatten, war ein Extra-Spaß. Doch das Pessachfest war und ist für mich auch heute mehr als nur Erinnerung an und Dankfest für die Erlösung aus ägyptischer Sklaverei. Das Pessachfest symbolisiert den universalen Wunsch des Menschen nach Freiheit. Dies gilt auch für Pessach 2006 in Deutschland.
Dabei steht der Freiheitsbegriff in unserer Gesellschaft heute nicht mehr an vorderster Stelle des Wunschkatalogs. Die Hoffnung auf Gesundheit und Arbeit führen die Umfrage-Statistiken an, materieller Wohlstand und Freizeitspaß folgen auf der Bewertungsskala. Aber wer macht sich noch Gedanken über die Bedeutung von Freiheitsrechten und damit verbunden über den Sinn von Eigenverantwortung und Verantwortung dem anderen gegenüber? Auch wenn über das »Gut« Freiheit heute inflationär gesprochen wird, so bleibt dieser Begriff im gesellschaftlichen und politischen Alltag nur in der theoretischen Diskussion. Im praktischen Leben ist er bedeutungslos. Mehr als 60 Jahre nach dem Ende eines mörderischen Regimes und fast 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist in Deutschland die Bereitschaft, die errungene Freiheit aktiv mitzugestalten und damit auch zu verteidigen, erheblich geringer geworden. Ein Beispiel ist die seit Jahren sinkende Wahlbeteiligung. Immer mehr Menschen in Deutschland verzichten auf ihr Wahlrecht und damit auf ein Stückchen über Jahrhunderte erkämpfter demokratischer Freiheit. Daß gerade junge Menschen in großer Zahl zur Gruppe der Nichtwähler gehören, macht betroffen. Politikwissenschaftler haben den Begriff Wahlmüdigkeit geprägt. Auch von Denkzetteln gegenüber den Parteien ist die Rede.
Doch die Erklärungen verharmlosen. Tatsächlich ist diese Entwicklung für unser demokratisches Gemeinwesen höchst gefährlich. Zwar wird die Demokratie daran nicht zugrunde gehen, aber ihr Sinn der Beteiligung am politischen Geschehen verblaßt. Der Verzicht auf das Wahlrecht führt schleichend zur freiwilligen Aufgabe weiterer Freiheitsrechte. So hat in den vergangenen Jahren die Gleichgültigkeit gegenüber rechtsradikalen Gewalttaten und ih- ren Opfern zugenommen. Selbst in den Medien, die zu den engagiertesten Verfechtern von Freiheitsrechten gehören, wird kaum noch über alltägliche Gewalttaten gegen Ausländer berichtet. In einigen Gegenden Deutschlands sehen Bürger teilnahmslos zu, wenn Neonazis in ihrer Nach- barschaft Terror verbreiten. Auch so wer- den Freiheitsrechte aufgegeben, wird Freiheit in unserem Land eingeschränkt. Denn ohne Engagement der Bürger sind Freiheit und Demokratie nicht denkbar und auf Dauer auch nicht haltbar.
Auch außenpolitisch macht sich die Vernachlässigung des Gutes Freiheit bereits deutlich bemerkbar. Nach den Drohungen des iranischen Staatspräsidenten, den Staat Israel auszulöschen, hat es keinen zivilgesellschaftlichen Aufschrei gegeben. Vergebens hat das in seinem Lebensrecht bedrohte Israel auf internationale Solidarität gehofft. Die nur dezent vorgebrachten Proteste aus Europa werden den Iran eher zu weiteren antijüdischen und antiisraelischen Aktionen ermuntern, als ihn von seinen Drohungen gegenüber Israel abzubringen. Vergeblich suchte man auch Großdemonstrationen engagierter Bürger, die für das öffentlich bedrohte Lebens- und Freiheitsrecht Israels auf die Straße gingen, eines Staates, der als Mitglied der UNO zur internationalen Staatengemeinschaft gehört.
Auch an diesem Pessachfest müssen wir also wieder über Freiheit diskutieren, vor allem aber über persönliche Verantwortung, die sich aus ihr ergibt. Dies gilt auch im Hinblick auf die jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Ihre Zukunft hängt davon ab, ob es gelingt, unterschiedliche religiöse Strömungen im Judentum in den Gemeinden zu verankern und soziale Spannungen abzubauen. Nur dann wird sich die Einheit der Gemeinden bewahren lassen, die letztlich die Freiheit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland garantiert. Entwicklungen wie in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin im vergangenen Jahr haben gezeigt, daß diese Freiheit auch von innen heraus gefährdet ist. Das Pessachfest gibt uns jenseits des hektischen Alltags die Gelegenheit, unsere Verantwortung für die Zukunft einer freien jüdischen Gemeinschaft in Deutschland unter uns zu diskutieren und sie zu bekräftigen. Auch deshalb ist Pessach für mich ein ganz aktuelles Fest.
Der Autor ist Rechtsanwalt, Redakteur und Moderator beim WDR und war von 1986 bis 1992 Direktoriumsmitglied und Generalsekretär des Zentralrats der Juden.