Es gab mehr Anmeldungen als freie Plätze. Mitte Februar kamen 90 Angehörige von Menschen mit Behinderung nach Frankfurt am Main zu einer »Tagung für Angehörige von jüdischen Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung«. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWSt) hatte dazu eingeladen. Mitinitiator der Tagung ist der Kölner Sozialpädagoge Michael Bader. Er hat selbst zwei behinderte Kinder mit Down-Syndrom (15 und 18 Jahre). Seit zehn Monaten leitet er das ZWSt-Projekt »Integration von Menschen mit geistiger und psy- chischer Behinderung in das jüdische Gemeindeleben«.
Herr Bader, anscheinend trauen sich immer mehr betroffene Familien aus der Isolation. Wie erklären Sie sich das?
bader: In zahlreichen jüdischen Gemeinden entstehen derzeit Gruppen von Angehörigen. In einigen Städten wie beispielsweise Köln, Düsseldorf, Frankfurt und Freiburg hat der Austausch untereinander schon begonnen. Jetzt haben sich auch in kleineren jüdischen Gemeinden wie Schwerin, Leipzig und Dresden Betroffene zusammengetan. Es ist einiges in Bewegung. Ein wichtiger Anstoß waren sicherlich auch die ersten beiden Ta- gungen der ZWSt zum gleichen Thema im Mai 2004 und Februar 2005.
Was sind die größten Sorgen der Angehörigen?
bader: Viele bewegen besonders rechtliche Fragen: Wie und wo können die Kinder oder Geschwister die optimale Förderung erhalten? Wo kann ich Pflegegeld beantragen? Wie lange habe ich Anspruch auf Kindergeld? Und wie sieht es mit der Grundsicherung aus? Zu diesem Themenkomplex hatten wir eine Referentin eingeladen. Sie konnte viele Fragen klären. Aber eine der wichtigsten Fragen ist nach wie vor, was geschieht mit meinem Kind, wenn ich nicht mehr da bin? Wie kann die Bindung zur jüdischen Gemeinschaft aufgebaut und erhalten werden? Gibt es jüdisch geprägte Wohnformen?
Zeichnet sich da eine Lösung ab?
bader: Es gibt Anzeichen, daß im Laufe der kommenden Jahre in Frankfurt eine Wohnform für geistig und psychisch behinderte Menschen entsteht. Diese könnte an die bestehende Infrastruktur des Altenheimes angegliedert werden. In Frankfurt entstehen auch erste Wohnmodelle für russischsprachige Migranten, die gemeinsam mit ihren behinderten Angehörigen leben wollen. Wichtig ist, daß diejenigen, die sich so etwas für ihre Angehörigen wünschen, ihren Bedarf äußern, sich dafür einsetzen und sich mit anderen zusammenschließen. Denn von allein wird nichts passieren. Vor einem halben Jahr haben wir einen deutsch- und russischsprachigen Fragebogen an die jüdischen Gemeinden verschickt. Wir wollen ermitteln, wie viele Behinderte in den Gemeinden leben und welche Art Hilfe sie brauchen. Der Fragebogen kann jederzeit bei uns angefordert werden (069/ 94 43 71-31.-32).
Das von Ihnen betreute ZWSt-Projekt ist auf drei Jahre angelegt und wird auch von der »Aktion Mensch« finanziell mitunterstützt. Was haben Sie und Ihre Kollegin Dinah Kohan in den ersten zehn Monaten erreicht?
bader: Sehr viel Öffentlichkeit. Es gab in jüdischen Zeitungen viele Berichte – vor allem durch die Veranstaltungen »Ich bin auch noch da«, die wir in mehreren Städten in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Sozialabteilungen der Gemeinden angeboten hatten. Mittlerweile haben wir sehr viel mehr Anfragen als vorher und führen bereits telefonische Beratungen durch. Mehrere Selbsthilfegruppen haben sich gebildet. Wir haben eine Kooperation mit der Fachhochschule Düsseldorf initiiert: Angehende Sozialarbeiter und Pädagogen, die alle aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion kommen, betreuen Zuwanderer mit behinderten Angehörigen und wollen den Aufbau der Selbsthilfegruppen unterstützen. Die Studenten können sich natürlich sehr gut in deren Lage hineinversetzen. Im Aufbau ist auch ein Internet-Portal (www.zwst.info) zum Projekt mit vielen hilfreichen Informationen in Russisch und Deutsch.
Was hat sich durch Ihre Arbeit in der Öffentlichkeit getan?
bader: Viele Menschen, die durch die Medien von dem Projekt erfahren haben, sprechen uns an und wollen Menschen mit Behinderung in den Gemeinden unterstützen. Und auch die Funktionsträger in den Gemeinden werden aufmerksam. Ein kleines Beispiel: Die Angehörigengruppe Köln plant einen Zoobesuch. Wir fragten den Vorstand der Kölner Gemeinde, ob er den Ausflug finanziell unterstützen könnte. Jetzt habe ich erfahren, daß im Wirtschaftsplan der Gemeinde eine Haushaltsposition für die be- hinderten Menschen eingerichtet wurde. Das sind erste Entwicklungen, wichtige Schritte.
Wie sehen Ihre Pläne für die weiteren zwei Jahre des Projektes aus?
bader: Wir wünschen uns, daß in allen Gemeinden Angehörigengruppen entstehen, die sich vernetzen und sich zu einer Interessenvertretung herausbilden. Es soll an jüdisch geprägten Lebensformen für Menschen mit unterschiedlichem Unterstützungsbedarf gearbeitet werden. Außerdem möchte ich, daß sozial engagierte Gemeindemitglieder so geschult werden, daß sie drei- oder viermal im Jahr Menschen mit Behinderung aus ihrer Isolation holen können und mit ihnen Ausflüge unternehmen. Viele können sich nicht vorstellen, wie groß die Freude eines Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung ist, wenn jemand ihn abholen würde, um mit ihm einige Stunden zu verbringen. Mal mit jemandem ins Kino oder Essen gehen, einen Ausflug machen oder zu einer Feierlichkeit in die jüdische Gemeinde mitnehmen! Und dies von jemandem, der das aus reiner Freude, nicht aus Verpflichtung als Verwandter oder bezahlter Helfer macht. Wichtig wären auch Deutschkurse in einfacher Sprache für die Zuwanderer mit Behinderung.
Was wünschen sich die Teilnehmer von den jüdischen Gemeinden?
bader: Informationen, Austausch mit Menschen in gleicher Lebenssituation, Anerkennung für ihre außergewöhnlichen Leistungen. Bei der Schlußrunde sagten viele Teil- nehmer, wie gut es ihnen tut, ernst genommen zu werden und daß ihnen geholfen wird. Langfristig möchten diese Familien einen Platz in den jüdischen Gemeinden finden. Sie wünschen sich, daß ihre behinderten Angehörigen dort auch Schutz genießen dürfen.
Das Gespräch führte Christine Schmitt.