von Charlotte Knobloch
Seit 50 Jahren verleiht der Zentralrat der Juden den Leo-Baeck-Preis. Was aber soll damit erreicht werden? Und warum wurde diese Auszeichnung nach dem Rabbiner Leo Baeck benannt?
Zur Beantwortung der ersten Frage lohnt es, einen Blick in die Geschichte zu werfen: Von »Gelehrten, Studierenden und förderungswürdigen Forschern« war in den Anfangsjahren des Leo-Baeck-Preises die Rede. Diese Adressaten wurden »zu Ehren des Rabbiners Leo Baeck« und in der Hoffnung ausgezeichnet, »dass sie Baecks Begeisterung für Wissenschaft und Forschung, Wohltätigkeit, Humanität und Friedensliebe weitertragen werden«. Klar ist also, dass damals vor allem Wissenschaftler und Intellektuelle ausgezeichnet werden sollten. Wissenschaftler, die nicht nur in der Forschung glänzten, sondern darüber hinaus eine humanitäre Gesinnung nachweisen konnten. Klar ist auch, dass die Preisträger im Rahmen ihrer Arbeit einen entscheidenden Beitrag zur Rekonstruktion deutsch-jüdischer Geistesgeschichte geleistet haben sollten.
Nach der Katastrophe des NS-Regimes war dies Pionierarbeit. Denn der Aderlass, den das Judentum im Nationalsozialismus erlitt, nagte an den Wurzeln seiner Kraft, zerstörte es beinahe vollends. Wer sich auf Spurensuche begab und die Fährte derjenigen wieder aufnahm, die von Hitlers Schergen ermordet wurden, rekonstruierte das kulturelle Gedächtnis des jüdischen Volkes. Er gab dem deutschen Judentum seine verlorene Geschichte, Tradition und Identität zurück. Der Leo-Baeck-Preis war folglich als Anreiz gedacht, die Entkoppelung der Kinder Israels von ihrer Geistestradition aufzuheben, die zerstörte jüdische Welt nachzuzeichnen und an sie anzuknüpfen.
Ein ganz handfestes Beispiel ist das 1957 erschienene Vermächtnis des deutschen Judentums: Mit Hiob als Parabel jüdischer Existenz, die trotz der Herausforderung durch Auschwitz die Verbindung zum biblischen Erbe bewahrt hat und daraus den Mut schöpft weiterzumachen, traf Hermann Levin Goldschmidt den Kern der Idee des Leo-Baeck-Preises und wurde nicht zuletzt deshalb mit diesem ausgezeichnet. Denn das Vermächtnis des deutschen Judentums ist ein eindrucksvolles Zeugnis jüdischer kultureller Selbstbehauptung nach Auschwitz.
Warum aber wurde dann ausgerechnet Leo Baeck als Namensstifter für diesen Preis ausgewählt? Schließlich emigrierte er 1945 nach London und prophezeite, dass die Epoche der Juden in Deutschland »ein für allemal vorbei« sei. Ein Preis als Ansporn, die jüdisch-deutsche Geistestradition fortzuschreiben, benannt nach einer Persönlichkeit, die eben diese für beendet erklärte? Ja. Denn tatsächlich hat Baeck wie kein anderer am kulturellen Vermächtnis des deutschen Judentums weitergearbeitet. Nur eben nicht von Deutschland aus. Genau wie viele andere jüdische Intellektuelle erkannte er schmerzlich, dass die junge Bundesrepublik eine andere Art von Kontinuität suchte. Die Grauen der Vergangenheit passten nicht zu Neuanfang und Wirtschaftswunder. Sie wurden folglich verdrängt, marginalisiert und geleugnet. Im Exil aber konnte die Geschichte der Juden im deutschsprachigen Raum erforscht werden. Hier konnten deutsche Juden an ihre zerstörte Tradition anknüpfen und sie weiterentwickeln. Leo Baeck spielte dabei eine Vorreiterrolle. Zudem besuchte er von 1948 an seine frühere Heimat beinahe jedes Jahr, referierte über jüdische Philosophie, Religion und Literatur. Baeck hatte also maßgeblichen Anteil am Wiederaufbau der jüdischen Welt in Deutschland. Er blieb die prägende Gestalt des deutschen Judentums.
Heute ist das Vakuum, das der nationalsozialistische Vernichtungswahn hinterlassen hat, beinahe gefüllt: Die regen Lehr- und Forschungstätigkeiten am Lehrstuhl für jüdische Geschichte an der Universität München, an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg sowie dem Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg beweisen eindrucksvoll das facettenreiche Wiedererwachen des Judentums in Deutschland. Die Pionierarbeit ist vollbracht, das Feld – fast – bestellt. Wir haben in Deutschland wieder Wurzeln geschlagen. Heute sind es weniger verlorene Geistestraditionen, sondern Antisemitismus und politische Gleichgültigkeit, die unsere Existenz in frage stellen.
Die Preisträger der vergangenen Jahre spiegeln diese Tendenz wider: Weniger wissenschaftliche Verdienste um das Judentum, vielmehr herausragendes soziales und politisches Engagement für die jüdische Gemeinschaft wurden ausgezeichnet. Der Leo-Baeck-Preis ist jetzt vor allem, aber nicht nur, ein Signal an das Gemeinwesen: Wider eine Gesellschaft des kollektiven Achselzuckens und des Wegschauens, für ein gerechtes und menschliches Miteinander im Bewusstsein des dunklen Kapitels deutscher Geschichte.
Trotz dieser beginnenden Verschiebung des Anliegens des Leo-Baeck-Preises wirkt seine ursprüngliche Idee weiter: Denn zu den gewürdigten prominenten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gesellen sich immer wieder auch Wissenschaftler und Intellektuelle, die die deutsch-jüdische Geistestradition fortschreiben. Leo Baecks Andenken hat Platz für hervorragende Persönlichkeiten aller Gesellschaftsbereiche – solange sie in seinem Sinne wirken.
Die Autorin ist Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland.