von Rabbiner Berel Wein
Im jüdischen Kalender ist die Zeit, in der wir uns gerade befinden, eine Zeit der Trauer und der Erinnerung. Es gilt, sich ins Gedächtnis zu rufen, was uns und der Welt mit der Zerstörung des Tempels verloren ging. Und es geht darum, des Exils, das dem jüdischen Volk aufgezwungen wurde, zu gedenken.
Die Tage von Bein Hametzarim – also der Drei Wochen und Neun Tage – die mit Tischa Be’Aw zu Ende gehen, sind gekennzeichnet vom Fehlen jeglicher persönlicher oder nationaler Feste, von besonderen Diätvorschriften, dem Verzicht auf größere Einkäufe und anderen Geboten und Gebräuchen, die speziell auf diese Zeit gemünzt sind.
Eine recht gedämpfte Zeit also, eine Zeit, die eine schwere psychologische und historische Last trägt. Niemand erinnert sich gern an traurige Ereignisse. In der Tat ist die menschliche Psyche so genial konstruiert, dass wir solche Erinnerungen im Unbewussten sublimieren, damit sie uns nicht am Weiterleben hindern und wir nicht wegen vergangener Ereignisse und Traumata in Trauer und Depression verharren. Das Vergessen ist daher auch ein Segen.
In seiner letzten Rede nennt Moses den Segen des Vergessens eins der Geschenke des Schöpfers an die Menschen. Dennoch gebietet uns das jüdische Leben und Ritual, auf das Vergessen zu verzichten und uns trauriger Ereignisse zu erinnern – ja, fast wird von uns verlangt, dass wir sie verehren und ihre Existenz und die Lehren, die sie bieten, zu schätzen wissen.
Des Todestages eines geliebten Menschen zu gedenken – Jahrzeit oder Askara – ist ein heiliger Brauch im jüdischen Leben. Dem Gedenken an den Holocaust, so wie dem Gedenken an all die vorangegangenen furchtbaren Massaker an Juden durch die Jahrhunderte, sind besondere Tage im jüdischen Kalender und spezielle Gebete und Feiern gewidmet. Wieso sind wir so besessen davon, uns der Trauer zu erinnern?
Die Antwort finden wir, wenn wir uns das jüdische Verständnis vom Leben vor Augen führen. Ein Leben, das keine Trauer oder Enttäuschung kennt, ist auf dieser Welt eine Unmöglichkeit. Als die großen Rabbiner Raban Gamliel von Yavneh besuchten, der wegen des Verlusts eines geliebten Menschen trauerte, berichtete einer von ihnen, sie hätten sich bei dieser traurigen Gelegenheit seltsam erleichtert gefühlt. »Bis dahin hatte er anscheinend nie Rückschläge im Leben erlitten, als erhielte er den vollen Lohn für seine guten Taten bereits in dieser Welt. Jetzt, da er so offensichtlich trauerte, konnten wir uns wieder gewiss sein, dass der wahre Lohn für seine Güte und Frömmigkeit aufgespart ist für die ewige Kommende Welt.«
Das Leben bringt Augenblicke der Trauer und Tragödie. An der Fähigkeit, mit Trauer und Härten zurechtzukommen, misst sich ein Mensch und ein Volk. Das jüdische Volk als Ganzes wurde im Feuer unaussprechlicher Tragödien gehärtet und ging daraus in immer neuer Größe hervor. Nur vor dem Hintergrund vorangegangener Tragödien und Trauer können seine Leistungen in jeder Generation und an jedem Ort wirklich gewürdigt werden.
Wenn wir die Trauer vergessen, sind wir nicht mehr in der Lage, die Freude und das Erreichte wirklich zu ermessen. Um die Rückkehr der Juden in das Land Israel würdigen zu können, muss das Exil mit all seinen schweren Erinnerungen für uns real und in unserem Gedächtnis präsent sein.
Der Verlust der Erinnerung an die Trauer im Einzelnen und in einem großen Teil der jüdischen Gesellschaft ist der Grund, warum so viele Juden die Wiedergeburt Israels nicht würdigen können. Die Holocaustleugner sind gleichzeitig die größten Israelhasser. Zwischen den beiden Ausdrucksformen des Hasses besteht ein klarer Zusammenhang.
Die Zeit, die wir gerade durchleben, ist ein Auftakt zu den großen und ehrfurchtgebietenden Hohen Feiertagen und dem Freude bringenden Sukkot, die bereits auf ihren Auftritt warten. Unsere Trauer und unsere Fähigkeit, damit umzugehen, dienen dazu, uns auf die großen Tage von Tischrei, die nur noch wenige Wochen entfernt sind, vorzubereiten.
Sich der Verluste und Niederlagen zu erinnern heißt, sie in Siege und Gewinne umzuschmieden. Ich habe oft gedacht, dass darin der Grund für den aschkenasischen Brauch liegt, neugeborenen Kindern den Namen verstorbener geliebter Menschen zu geben. Die Erinnerung an all je-
ne, die leiblich nicht mehr bei uns sind, deren Leben und deren Hoffnungen je-
doch durch ihre Nachkommen weitergetragen werden, gewährt eine bittersüße Freude. Sie rechtfertigt die Vergangenheit und führt uns zur gleichen Zeit in die Zu-
kunft. Letzten Endes also ist die Erinnerung an die Trauer nichts Negatives. Denn sie allein hilft uns, unser Leben, unsere Träume und Bestrebungen zu formen und zu gestalten. Und das ist das beste Gegenmittel gegen Depression und einen Dauerzustand von Trauer.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.rabbiwein.com