von David Hanschke
In seinem Kommentar zur Mischna (Rosch haSchana 1,3) behauptet Maimonides, die Juden hätten in der Zeit des Zweiten Tempels an Tischa Be’Aw gefastet. Im Rück-blick ist das erstaunlich: Der Tempel steht in seiner ganzen Herrlichkeit – und die Juden fasten in Trauer über seine Zerstörung?! Dieser scheinbare Widerspruch veranlasste Rabbi Schimon Ben Zemach Duran in einem Responsum zu schreiben: »Es scheint, als sei das, was (Maimonides) darüber schrieb, ein Fehler des Kopisten.« Andere Gelehrte, auch noch in unserer Zeit, griffen diese Mutmaßung auf.
Heute jedoch sind wir im Besitz des von Maimonides selbst korrigierten Manuskripts seines Mischna-Kommentars – und es kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass es sich nicht um einen Fehler handelt. Darüber hinaus hatte Maimonides diese Auffassung auch in seinem Hauptwerk, der Mischne Tora, vertreten: »Es war Brauch in ganz Israel, an diesen Tagen und am 13. des Adar zu fasten, im Gedenken an die Fasttage, die in der Zeit von Haman eingehalten wurden.« Der Ma-
gid Mischna reagiert überrascht: Wie konnte Maimonides das Fasten als etwas betrachten, das von einem Brauch abhing – nachdem er selbst bestimmt hatte, dass die Verpflichtung, das Fasten zu befolgen, auf prophetischer Autorität beruht?
In seiner Antwort zitiert der Magid Mischna den Talmud (Rosch haSchana 18b) wo es heißt, dass die Pflicht zum Fasten je nach Umständen für jede Generation verschieden sein kann. Drei Kategorien von Umständen werden definiert: »Wo Frieden herrscht, sind sie (die Fasttage) Tage der Freude und Fröhlichkeit; wo Verfolgung herrscht, sind sie Tage des Fastens; wo keine Verfolgung und dennoch kein Frieden herrscht, dürfen alle, die fasten wollen, fasten, und alle, die nicht fasten wollen, brauchen nicht zu fasten.«
Die Entscheidung, an diesen Tagen zu fasten oder nicht, ist den Menschen überlassen. Tischa Be’Aw jedoch »fällt in eine andere Kategorie, weil an ihm zahlreiche Unglücke geschahen«. Weshalb die Pflicht zu fasten auch dann gilt, wenn der dritte, dazwischenliegende Zustand herrscht.
Leider taucht die Einteilung in drei gegebene Situationen, wie sie im Talmud steht, bei Maimonides überhaupt nicht auf. Warum ignoriert Maimonides die talmudische Quelle? Die Antwort, erfahren wir im Mischkenot Ja’akov, liegt auf der Hand. Maimonides glaubt, der talmudische Text beziehe sich auf die Zeit des Zweiten Tempels, als die Fastenpflicht an drei der vier Tage, die der Zerstörung von Jerusalem gewidmet sind, von unterschiedlichen politischen Umständen abhängig war. Tischa Be’Aw hingegen wurde auch in den Jahren, in denen der Tempel stand, ohne Einschränkung eingehalten, wie Maimonides in seinem Mischna-Kommentar erläutert. Mit der Zerstörung des Zweiten Tempels wurde dieser talmudische Text bedeutungslos. Jetzt waren wieder alle Fasttage ausnahmslos Pflicht, ungeachtet der sich wandelnden Umstände – bis zu der Zeit, wo der Dritte Tempel errichtet werden wird.
Wie deutet Maimonides die talmudische Stelle, an der von den »zahlreichen Unglücken«, die an Tischa Be’Aw geschahen, die Rede ist? Dieses »zahlreich«, wie es sich in der zweiten Zerstörung zeigen wird, ist noch nicht eingetreten! Es scheint, Maimonides interpretiert hier anhand eines Paralleltexts am Ende des Sota (49b): »Als der Rabbi (Jehuda Hanassi) starb, verdoppelte sich das Ungemach.« Das heißt nicht, dass an dem Tag, an dem er starb, zwei Unglücke geschahen, sondern dass alle bestehenden Probleme verdoppelt wurden. Und so gilt auch: Nach der zweiten Zerstörung verdoppelten sich alle Schwierigkeiten, die ihr vorangingen – und daher muss sich die Stelle auf die erste Zerstörung beziehen. Maimonides ist der Meinung, dass in der Zeit des Zweiten Tempels das Fasten an Tischa Be’Aw Pflicht war. Zu erklären wäre dann noch, warum es so war. Weshalb der Zerstörung des Tempels nachtrauern, nachdem dieser längst wieder stand? Weil der Hauptgrund für das Fasten an Tischa Be’Aw nicht die Trauer um die konkrete Zerstörung des Tempels ist, da der Tempel in dieser ganzen Zeit in Trümmern lag. Wir trauern, weil wir unter fremder Herrschaft leben, und diese Tatsache allein entschied, ob in der Zeit des Zweiten Tempels das Fasten eingehalten wurde oder nicht. Auch wenn wir frei von Fremdherrschaft leben, der Tempel aber trotzdem nicht wieder errichtet wird, herrscht natürlich die Verpflichtung, an Tischa Be’Aw zu fasten. Die Abwesenheit des Tempels als solche ist ein Symptom dafür, dass wir nicht völlig unabhängig sind – weder politisch noch spirituell.
Mit der ersten Zerstörung war der Be-
weis erbracht, dass der Tempel zerstört werden konnte. Fortan bestand die reale Möglichkeit, dass Gott Sein Haus zerstören und Sein Volk verbannen wird. Wir wissen, dass die Propheten gegen den Glauben ankämpften, der stur darin festhielt, dass die Idee als solche eine theologische Unmöglichkeit darstellt. Es dürfe nicht möglich sein, behaupteten einige, dass der Tempel des Herrn, das Fundament Seines Sitzes im Universum, einstürzen kann. Die Zerstörung des Ersten Tempels bereitete dieser Gewissheit ein Ende: Nie wieder konnte der Mensch sein Vertrauen auf Holz und Stein setzen – nicht einmal auf die Steine des Tempels. Von nun an ruhte die Verantwortung für die Zukunft voll und ganz auf den Schultern des Volkes, von seinem Verhalten hing seine Zukunft ab. Erwies es sich als würdig, würde es unter dem Schatten seines Tempels in seinem eigenen Land leben. Wenn nicht, würde der Tempel einstürzen und das Volk verbannt werden.
Daher fasteten sie an Tischa Be’Aw in der ganzen Ära des Zweiten Tempels. An diesem Tag festigten sie ihr Verständnis dafür, dass die Zerstörung immer im Be-
reich des Möglichen lag. Niemand kann sich auf Losungen wie »Gott wird uns helfen« verlassen, denn die Verantwortung für unsere fortdauernde Existenz als Volk liegt allein bei uns. Das Bewusstsein, dass die Zerstörung möglich ist, könnte sehr wohl der Schlüssel dafür sein, in der Zukunft, wenn der Tempel wieder aufgebaut ist, Zerstörung zu verhindern.
Der Autor unterrichtet an der Bar-Ilan-Universität in Ramat-Gan/Israel. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fakultät für Jüdische Studien. www.biu.ac.il