von Micha Brumlik
Wenn es um Gerechtigkeit in der Gesellschaft geht, dann melden sich die Kirchen immer wieder zu Wort. Das gilt auch für die derzeit heftig umstrittenen Themen Mindestlöhne und Managergehälter. Von Rabbinern liest und hört man dazu wenig. Dabei artikulieren sich in Tora und Talmud immer wieder verzweifelte und wütende Schreie nach sozialer Gerechtigkeit.
»Hört auf dieses Wort, ihr Baschanskühe auf dem Berge von Samaria, die ihr die Geringen bedrückt und die Armen zertretet und zu euren Herren sprecht: ›Her damit, wir wollen saufen.‹« Was der Prophet Amos vor 3.000 Jahren voller Wut den Frauen der Herrschenden zurief, hat nichts mit Frauenfeindschaft zu tun. Denn er weiß, dass auch die Frauen Samarias nicht frei, sondern vom Wohlwollen ihrer Herren abhängig sind. Dennoch verachtet er sie als Nutznießerinnen einer Herrschaftsform, die die Ärmsten des israelitischen Nordreichs ausbeutet, an den Rand der Gesellschaft drängt und sogar zu Tode kommen lässt. Der Prophet lässt anklingen, dass eine Beteiligung an dieser Ausbeutungspraxis Götzendienst ist: War nicht Samaria mit seiner Hauptstadt Sichem zugleich das Zentrum der Verehrung des Goldenen Kalbs? Sind die »Baschanskühe« nicht die Frauen der israeli- tischen Oberschicht, die ihre eigene Befreiung vergessen und sich der Macht ergeben haben?
Gründete jüdische Ethik alleine auf der Bibel, bestünde kein Zweifel: Die Parteinahme der Propheten für die Armen ist von sozialrevolutionärer Eindeutigkeit. Allerdings ist das Judentum nicht nur die Religion des Tenach, sondern die von Tenach und Mischna, also auch jener mündlichen Offenbarung vom Sinai, die erst im zweiten Jahrhundert der Zeitrechnung endgültig aufgeschrieben wurde.
Das rabbinische Judentum, das sich auf dieser Basis etwa zur gleichen Zeit wie das Christentum formierte, entstand unter Bedingungen, in denen das Wirtschaftsleben auf unabhängigem Handwerk und auf Sklaverei beruhte. Zwar gab es auch Lohnarbeit, aber sie war nicht die Basis der Wirtschaft. Anders ist es kaum zu erklären, warum die Rabbanim zwar sehr differenzierte Regeln zum Lebensalltag vorgeben (Säen und Ernten, Handel, Handwerk, Sexualität, Heirat, Geburt, Feiern und Speisen), Beiträge zu einer Ethik der Ökonomie jedoch unterentwickelt wirken. Dort allerdings, wo sich unsere Weisen zu Fragen der Lohnarbeit geäußert haben, taten sie es klug und verantwortungsvoll.
Die Mischna (Traktat Bawa Metzia 83 a) erörtert ausführlich die Frage nach der zumutbaren Länge des Arbeitstages und der Verpflichtung des Arbeitgebers, seine Lohnarbeiter zu verköstigen – und kommt zu einem auf den ersten Blick enttäuschend pragmatischen Ergebnis: »Alles nach dem Landesbrauch!« Moralischer Rigorismus scheint nach rabbinischer Lehre bei der Frage der Lohnfestsetzung fehl am Platz. Hier ist offenbar vor allem Sensibilität und politische Klugheit geboten. Einige Zeilen später zitiert die Mischna allerdings Rabbiner Jochanan ben Mathija, der jede geldwerte Leistung für Lohnarbeit als unangemessen erachtet: »Selbst wenn du ihnen eine Mahlzeit gleich des Schlomo zu seiner Zeit bereitest, hast du deiner Pflicht gegen sie nicht genügt, denn sie sind Kinder von Abraham, Jizchak und Jakow.« In der Abrahamskindschaft zu stehen, bedeutet in der Sprache des Talmud aber nichts anderes, als Angehöriger der ganzen, von Gott gesegneten Menschheit zu sein.
Das aber führt im Hinblick auf die Lohnfrage zu der paradoxen Konsequenz, dass jede Bezahlung zu gering und möglichst angemessener Lohn dennoch ein Menschenrecht ist. Indem die rabbinische Ethik das Auszahlen eines Entgelts dem Prinzip der Würde des Menschen unterwirft, die detaillierte Festsetzung der Lohnhöhe jedoch den jeweiligen ökonomischen und politischen Umständen anheimstellt, orientiert sie sich nicht an den Gesetzen des Marktes.
Angemessenen Lohn zu erhalten, ist ein Menschenrecht. Zwar ist er nach Maßgabe der Umstände zu gestalten, aber auf keinen Fall darf die Würde des Einzelnen dabei verletzt werden. Dank des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland gibt es keinen Grund, den Arbeitnehmern einen angemessenen Mindestlohn vorzuenthalten. Die Rabbiner könnten dem Gesetzgeber da sprichwörtlich mal die Leviten lesen. Und den Managern gleich mit.