EILMELDUNG! Internationaler Strafgerichtshof erlässt Haftbefehle gegen Israels Premier Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Gallant

Konstantin Mykhaylov

Vom Landwirt zum Künstler

Montag. Heute ist mir bewusst geworden: Dies ist schon mein vierter Sommer in Deutschland. Aber dieser Sommer erscheint mir besonders bunt und besonders sonnig. Es liegt der Duft verschiedenster Blüten in der Luft und der Geruch nach frischem Gras. Ich genieße die Blätterpracht an den Bäumen, in den Parkanlagen und auf den Straßen. Und schon kehren Schwärme von Erinnerungen zurück, Erinnerungen an den Moment unserer Ankunft in Unna-Massen. Ich war voller Erstaunen angesichts der gepflegten Vorgärten und Rasenflächen vor den Häusern. Was mir ganz besonders auffiel, war das freundliche Verhalten der Mitarbeiter des Aufnahmelagers uns gegenüber. Wir, das sind meine Frau Hanna und ich, unser Sohn Igor, seine Frau Tatjana sowie unser Enkel Pavlo. Uns wurden fünf Orte in Nordrhein-Westfalen zur Auswahl angeboten. Entschieden haben wir uns für Recklinghausen. Es war eine gute Wahl, denn dort haben wir nur positive Erfahrungen sammeln können, sei es nun im Umgang mit Behörden oder in der Begegnung mit Einheimischen. Wir erhielten alles, was für einen Anfang notwendig ist: eine Unterkunft mit Einrichtung und auch finanzielle Unterstützung. Igor arbeitet inzwischen als Chirurg in einem Krankenhaus in Recklinghausen, meine Schwiegertochter ist Gynäkologin in Herten. Was mich nach Deutschland drängte, war wohl die Faszination für demokratische Länder.
Dienstag. Seit heute morgen bin ich mit Anatolij, einem Landsmann, unterwegs. Mit unseren Fahrrädern fahren wir durch unbekannte Straßen in Recklinghausen zu einem neuen Laden. Wieder einmal bewundere ich die Vorliebe der Hausbesitzer für Ordnung und Sauberkeit. Die heiße Sommerluft weckt Erinnerungen an meine Heimat, die Ukraine. Auch in Winniza, wo ich geboren wurde, waren die Sommer heiß und trocken. Im Laden angekommen, bin ich überrascht von der Vielfalt und hohen Qualität der Waren. Ich erinnere mich, wie ungewohnt für mich in der ersten Zeit der Anblick von Warenständern vor den Geschäften war. Immer wieder staune ich über den freundlichen Umgang der Verkäufer mit den Kunden.
Mittwoch. Heute bin ich mit dem Bus nach Oer-Erkenschwick gefahren. Mein Blick fiel während der Fahrt auf goldene Weizenfelder. Da musste ich an meinen früheren Beruf zurückdenken, als ich noch Agrarwissenschaftler an einem Forschungsinstitut war. Heute betrachte ich Felder wie die gelungenen Werke eines Malers: nach dem Winter langsam erwachend oder in voller Ährenpracht. Von der Malerei bin ich schon seit früher Jugend hingerissen. Auch wenn ich inzwischen 74 Jahre alt bin, liebe ich es zu malen: Genrebilder, Landschaften, Stillleben im Stil des klassischen Realismus. Ich denke an meine ehemaligen Lehrer in der Ukraine. Jetzt kann ich etwas von dem, was sie mir beibrachten, an die Schüler meines Kindermalkurses weitergeben. Der findet immer samstags statt.
Donnerstag. Heute Morgen begleite ich einen Bekannten zu einem Arzttermin, er spricht noch nicht gut Deutsch, ich übersetze für ihn. Mir fällt auf, wie sauber die Praxis und wie freundlich und gut organisiert das Personal ist. Ich merke, dass es mir inzwischen viel leichter fällt, mich im Alltag zu verständigen. Und trotzdem gehe ich auch weiterhin zum Sprachkurs.
Der Stress der ersten Tage, Wochen und Monate in Deutschland liegt lange hinter mir. Ich glaube, ich habe mich gut eingelebt hier. Mein Heimweg vom Sprachkurs führt durch einen Park. Dort gibt es Bienenstöcke, da muss ich immer stehen bleiben. In meiner alten Heimat war ich nämlich Hobby-Imker. Ich beobachte so gern, wie die Bienen mit dem Nektar der Blumen in ihre Bienenstöcke zurückkehren.
Am Nachmittag gehe ich zum Computerkurs und anschließend zur Chorprobe in die Synagoge. Ich singe leidenschaftlich gern. Schon als kleiner Junge und während meiner ganzen Schulzeit und auch später als Student habe ich gern gesungen. Viele der russischen, deutschen und hebräischen Lieder, die wir im Chor singen, berühren mein Herz. Neben dem Chor bin ich in unserer Gemeinde auch als Redaktionsmitglied der Zeitung »Hoffnung« aktiv.
Freitag. Mein Blick fällt auf Straßenbauarbeiten. Beeindruckend, dass die Arbeit vollkommen mechanisiert ist. Minimal ist der menschliche Aufwand. Die Arbeitsdisziplin ist sehr hoch, die Männer sind völlig nüchtern.
Samstag. Auf diesen Tag freue ich mich immer besonders. Da findet nämlich der Malkurs bei uns in der Siedlung statt, den ich seit Anfang 2006 leite. Er ist ein Projekt des Kinderschutzbundes. Meine Schüler sind sehr motiviert. Es liegt wohl auch an der Musik, die im Hintergrund läuft. Mal Beethoven oder Mozart, mal beruhigende Harfenklänge. Musik im Hintergrund gibt nicht nur dem Pinselstrich Rhythmus, sie verleiht auch der Kreativität Flügel. Ich denke, Kunst ist sehr wichtig für die seelische Harmonie der Kinder. Sie schafft gegenseitigen Respekt. Die meisten Kinder im Malkurs sind nicht in Deutschland geboren. Sie stammen aus Russland, der Ukraine, Kasachstan, Usbekistan, der Slowakei, Griechenland und der Türkei. Der Malkurs zeigt, wie gut sie sich integriert haben. Ich kann dabei zusehen, wie aus dem Nebeneinander ein freundliches Miteinander wird. Auch ist Kreativität ein gutes Mittel gegen Heimweh. Mein jüngster Schüler ist sieben Jahre alt, der älteste 18. Alle sind stolz auf ihre Werke! Das macht sie selbstbewusst. Ich spüre, wie sie beginnen, sich in Deutschland zu Hause zu fühlen.
Sonntag. Heute habe ich ein krankes Ehepaar besucht. Sie kommen auch aus der Ukraine. Ich fühle mich verpflichtet zu helfen. Auch wenn ich in keiner religiösen Tradition aufgewachsen bin, so halte ich es für wichtig, dass man sich an grundlegende moralische Prinzipien und Gebote hält. Gleich werde ich noch einen Besuch machen: Josef und Johanna Strewe, meine Nachbarn, haben mich auf eine Tasse Kaffee eingeladen. Sie sind Deutsche – eine gute Gelegenheit, die Sprache zu üben. Die Strewes haben mir sehr geholfen bei meinen ersten Schritten in ein neues Leben hier in Deutschland. Jetzt gebe ich etwas von dieser Güte, die mir zuteil wurde, an meine Schüler im Malkurs weiter. In naher Zukunft würde ich gern auch für die Kinder in der jüdischen Gemeinde einen Malkurs anbieten. Gutes zu tun, ist ganz wichtig für mich. Das Gute hat so eine Angewohnheit, es strahlt zurück.

Aufgezeichnet von Eva Masthoff.

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