Jüdisches Leben

Volle Kraft voraus

von Paul Spiegel

»Wieviel Heimat braucht der Mensch?« Mit dieser Frage setzte sich der österreichische Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende Jean Améry in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auseinander und gelangte zu der Feststellung: »Man muß Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben.« An anderer Stelle findet sich das Bekenntnis: »Heim, Heimat, das waren für mich sinnlose Worte. Ich war nirgendwo daheim. Ich war Jude und wollte, sollte es bleiben.« Seine Antworten spiegeln ebenso sehr innere Zerrissenheit wie lebenslange Suche und sicher auch Sehnsucht wider. Mehr als vierzig Jahre später zeigt sich, daß sich viele jüdische Jugendliche, die heute in Deutschland leben, ähnlich schwer tun, den Begriff »Heimat« für sich zu definieren. Das großartige Projekt »Jüdische Jugend in Deutschland« der Konstanzer Fachhochschule, bei dem nichtjüdische Studentinnen und Studenten jüdische Altersgenossen über ihr Leben in Deutschland inter- viewen, macht deutlich, daß jüdisches Leben in Deutschland im Jahr 2006 bunt und vielfältig ist und Anlaß zu Hoffnung gibt (Jüdische Allgemeine vom 30. März).
Und doch: Die Vergangenheit ist sehr gegenwärtig, und das Nachdenken über den Begriff »Heimat« treibt die heute in Deutschland lebende jüdische Jugend ebenso um, wie es schon ihre Eltern und Großeltern umgetrieben hat.
Als wichtigstes jüdisches Medium in Deutschland haben die Jüdische Allgemeine und ihre Vorläufer die komplizierte, oft schmerzhafte, aber immer wieder auch hoffnungsfrohe Auseinandersetzung der in Deutschland lebenden Juden mit ihrer »Heimat« in den vergangenen sechs Jahrzehnten begleitet. Die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, wie sie lange hieß, war nicht nur ein gesellschaftliches und politisches Sprachrohr der hiesigen jüdischen Gemeinschaft, sondern auch ein Medium jüdischer Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung.
Wer verstehen will, was damit gemeint ist, muß sich in die Jahre nach Kriegsende zurückversetzen. »Rest der Geretteten« nannten sich die etwa 20.000 Überlebenden der Konzentrationslager, die bei Kriegsende zwar befreit waren, für die sich das Lagerleben jedoch in den Displaced-Person-Camps fortsetzte. Die Menschen, die nach der Auflösung der Camps aus unterschiedlichen Gründen in Deutschland blieben, fühlten sich fast alle zeitlebens als Durchreisende. Besonders den vielen osteuropäischen Juden war es unmöglich, ein Heimatgefühl im Land der ehemaligen Mörder zu entwickeln. Deutschland stand in ihrer Wahrnehmung für unendliche Qual, für Entwurzelung und die Vernichtung der eigenen Welt. Entsprechend waren auch die von ihnen gegründeten jüdischen Gemeinden nur als Provisorien gedacht. Es kam jedoch anders: Was ursprünglich nur eine Übergangslösung bis zur Auswanderung sein sollte, bildete im Laufe der Jahre die Grundlage für die Wiederbelebung jüdischen Lebens in Deutschland.
Im Jahr 1948 bestanden in Deutschland zwar wieder rund 100 jüdische Gemeinden. Diese hatten jedoch mit Ausnahme der Frankfurter Gemeinde im Schnitt nicht mehr als 50 Mitglieder. Schon bald gab es Gemeindeblätter. Doch wuchs das Bedürfnis, sich über das lokale Geschehen hinaus mit der Situation der in Deutschland lebenden jüdischen Gemeinschaft als Ganzes auseinanderzusetzen. Einzelheiten über das Gemeindeleben in anderen Städten zu erfahren, half dabei, sich zunehmend wieder als Gemeinschaft wahrzunehmen. Dieser Prozeß der Selbstvergewisserung und das keimende Bewußtsein, daß sich so wenige Jahre nach dem Ende des Holocaust wieder jüdisches Leben zu regen begann, beförderte auch das Interesse an überregionalen und internationalen politischen Ereignissen und ihren Einfluß auf deutsch-jüdische Belange. Und damals wie heute befriedigt eine jüdische Presse auch das Interesse der nichtjüdischen Umwelt an dem Innenleben der jüdischen Gemeinschaft.
Bei einem Rückblick auf die vergangenen 60 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland und der Beschäftigung mit der Frage nach dem Umgang mit dieser »Heimat« ist die Beziehung zu Israel von zentraler Bedeutung. Charakteristisch für die Mehrheit der in Deutschland lebenden Juden ist seit jeher ein ausgeprägtes Gefühl der Verbundenheit mit dem Staat Israel. Er galt und gilt als eine Art Lebensversicherung, falls sich in Deutschland oder anderswo wieder Juden zur Flucht gezwungen sehen oder das Gefühl der Bedrohung übermächtig wird. Hinzu kommt das bei vielen Überlebenden und ihren Angehörigen noch immer verbreitete Unbehagen, in dem Land zu leben, das der eigenen Familie und der Judenheit insgesamt so viel Leid zugefügt hat, und nicht nach Israel übergesiedelt zu sein.
Dieses Empfinden wurde bis vor wenigen Jahren dadurch verstärkt, daß die nach dem Holocaust in Deutschland gebliebenen Juden innerhalb der jüdischen Welt geradezu verachtet wurden. Ob in Europa oder den USA – die wenigsten dort lebenden Juden konnten nachvollziehen, warum sich Juden im Land des Nazi-Terrors niedergelassen hatten. Wer als Jude in Deutschland heimisch geworden war, galt als Verräter. Erst 1990 setzte eine Wandlung ein, als der World Jewish Congress entschied, seine Jahreskonferenz im wiedervereinigten Berlin abzuhalten.
Die harsche, regelmäßig wiederholte Aufforderung seitens großer jüdischer Organisationen an die in Deutschland lebenden Juden, auszuwandern, schien Anfang der achtziger Jahre aufgrund der Überalterung der deutschen Gemeinden zunehmend überflüssig. Mit der politischen Wende in Osteuropa und der einsetzenden Zuwanderung Juden aus der ehemaligen Sowjetunion änderte sich diese Situation schlagartig. Erfreulicherweise gewannen bestehende Gemeinden neue Mitglieder, und viele Orte kehrten auf die jüdische Landkarte zurück. Deutschland hat sich durch die massenhafte Zuwanderung in nur fünfzehn Jahren zu einer bedeutenden jüdischen Heimstatt, zur drittgrößten jüdischen Gemeinschaft in Europa entwickelt. Die damit verbundenen sozialen Probleme sind hinlänglich bekannt und werden insbesondere von der Jüdischen Allgemeinen ebenso differenziert dargestellt wie die Tatsache, daß dieser Zuwachs an jüdischen Menschen eine unschätzbare Bereicherung bedeutet.
Für die neuen, traditionell heimatverbundenen Gemeindemitglieder ist der Neuanfang schmerzlich und hoffnungsvoll zugleich: Freude und Leid in der neuen Heimat Deutschland, das Heimweh nach dem verlassenen Zuhause und der Versuch, Brauchtum, Tradition und Sprache aus der alten Heimat in der fremden Umgebung zu bewahren – all das ist menschlich nur allzu gut nachvollziehbar, kann jedoch auch die Gefahr der Abschottung fördern und die Integration erschweren. Eingliederung ist für beide Seiten ein mühsamer, kräftezehrender Prozeß. Geduld wird noch lange gefragt sein.
Ein großer Teil der aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ausgewanderten Juden hatte sich dort massiven antisemitischen Angriffen ausgesetzt gesehen. Die Situation in Deutschland ist in keiner Weise mit der in den Staaten der ehemaligen UdSSR vergleichbar. Von einer Entwarnung in Sachen Antisemitismus kann jedoch ebensowenig die Rede sein. Den 2003 geschlossenen Staatsvertrag zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der auch eine Manifestation gegen Antisemitismus und Rechtsradikalismus ist, empfand die rechtsradikale Szene als Provokation. Daß der Haß in den Köpfen rechtsradikaler Fanatiker ungebrochen ist, spiegelt sich auch in den Zahlen des Verfassungsschutzes wider, die für die letzten Jahre einen Anstieg rechter Gewalttaten und vor allem ihrer Gewalttätigkeit ausweisen. Gleichermaßen alarmierend ist der Befund, daß 20 Prozent der deutschen Bevölkerung als offen oder latent antisemitisch gelten. Die Gewalttäter verfügen also durchaus über Rückhalt in der Gesellschaft. Einige antisemitisch motivierte Straftaten gehen aber auch auf das Konto von Islamisten. So ungewiß der Fortgang des Friedensprozesses nach den Wahlen in den Palästinensergebieten auch sein mag, so groß ist angesichts der Bedrohung die Sehnsucht nach einem dauerhaften Ende der Gewalt im Nahen Osten.
»Es gibt uns noch, kraftvoller denn je!« So ließe sich zum 60jährigen Jubiläum der ersten jüdischen Zeitung in Deutschland nach Kriegsende Bilanz ziehen. Deutschland mag für die hier lebenden Juden zuweilen eine schwierige Heimat sein und die Basis für jüdisches Leben in diesem Land äußerst zerbrechlich erscheinen. Festzuhalten bleibt, daß sich keine der düsteren Prophezeiungen erfüllte, nach denen »Deutschland ein weißer Fleck im jüdischen Bewußtsein werde«, wie Walter Oppenheimer, der spätere Leiter des Frankfurter Jüdischen Jugendzentrums, es einst formulierte.
Im Gegenteil. Die Ausstellung »Jüdische Jugend in Deutschland«, die auch in Berlin zu sehen sein wird, fesselt die Besucher durch die dort gewährten Einblicke in die Mentalität und Denkweise junger jüdischer Erwachsener, ihren Umgang mit Begriffen wie »Heimat«, »Gemeinschaft« oder »Deutschland«. Die Interviews mit den russisch-jüdischen und deutsch-jüdischen Männern und Frauen vermitteln aber vor allem auch Zuversicht und Vertrauen in eine Generation, die sich anschickt, die Geschicke der jüdischen Gemeinden zu lenken. Entgegen häufig geäußerten Beden- ken ist bei allen Befragten spürbar, daß sie sich ihrer Verantwortung sehr bewußt sind, die Erinnerung an das Schicksal ihrer Vorfahren wachzuhalten.
Umso berechtigter scheint im Jahr 2006 die Hoffnung, daß die jüdische Gemeinschaft in Deutschland stetig wächst, sich innerlich festigt und das komplizierte deutsch-jüdisch-israelische Beziehungsgeflecht weiter an Stabilität gewinnt. Dieses Werden und Wachsen wird sicherl auch weiter kritisch, informativ – und unterhaltsam – von der Jüdischen Allgemeinen begleitet. Herzlichen Glückwunsch zu 60 Jahren qualitätsvoller jüdischer Berichterstattung!

Der Beitrag von Paul Spiegel ist vor seiner Erkrankung entstanden. Wir wünschen dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland rasche Genesung.

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