Augsburg

Volldampf voraus!

von Vera von Wolffersdorf

Ein wenig aufgedreht wirkt Allan Edelhajt, als er sich hinter seinen Schreibtisch setzt. Sein Büro im Erdgeschoß der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg ist eher karg. Ein paar Kinderzeichnungen hängen an den Wänden, ein altes Sofa steht herum. Seit Oktober 2005 arbeitet Allan Edelhajt als Jugendleiter bei der IKG Augsburg. Er sprüht vor Energie, redet deutlich und mit Nachdruck. Auch im Sitzen bleibt der 27jährige gern in Bewegung: Ob er nun in einer Broschüre, die auf seinem Schreibtisch liegt, blättert, weil er etwas sucht oder triumphierend ein Papier in die Höhe hält – als schriftlichen Beweis für das, was er soeben gesagt hat.
Spricht er als Jude, der im schwedischen Göteborg geboren und aufgewachsen ist, lieber englisch als deutsch? Ganz kurz schaut er etwas irritiert aus seinen hellbraunen Augen. »Ja, natürlich« ruft er fast begeistert, »das kann ich viel besser. Reden wir englisch!« Seine Eltern kamen 1969 aus Polen nach Schweden. Die jüdische Gemeinde Göteborg war seine Heimat.
Die jüdische Gemeinde Augsburg zählt heute rund 1.800 Mitglieder, etwa 97 Prozent davon sind Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion. »In diesem Haus sprechen alle russisch«, erzählt Allan. »Manche sprechen deutsch, das muß ich jetzt erst mal noch besser lernen. Trotzdem: Wir verstehen uns.«
Jüdischen Jugendlichen den Sinn für jüdisches Leben, für Traditionen und Kultur zu öffnen – so beschreibt er sein Ziel als Jugendleiter. Er überlegt sorgfältig, sucht nach der passenden Formulierung, für das, was er erreichen will: »Es geht ja nicht nur darum, daß die jungen Menschen in die Synagoge kommen, son-
dern auch darum, daß sie ein Gefühl für ihr jüdisches Leben entwickeln, ihr Judentum in ihren Alltag integrieren. Und daß sie das eines Tages weitergeben an ihre Kinder.«
Mit dem enormen Zulauf von sogenannten Kontingentflüchtlingen, den die IKG in den vergangenen Jahren erlebte, veränderte sich die Gemeindestruktur und mit ihr auch die Aufgaben: Hilfe bei den Gängen zum Sozialamt, zum Arbeitsamt, Hilfe bei Sprachproblemen standen plötzlich auf der Tagesordnung. Die Gemeinde mit der größten Synagoge Deutschlands hatte in den vergangenen Jahren ernste finanzielle Probleme. Mittlerweile ist sie dabei, die Misere zu überwinden. Seit Mai 2005 gibt es einen neuen ersten Vorsitzenden: Alexander Mazo, ein Rechtsanwalt aus Usbekistan. Mit ihm und dem Rabbiner Henry Brandt begann ein Neuanfang in Augsburg. Ganz ohne Querelen verlief der nicht. So wurde der ehemalige Jugendleiter, Edelhajts Vorgänger, entlassen.
Der Akzent, den die Verantwortlichen nun auf die Arbeit mit den jungen Leuten setzen, beginnt im kleinen: Für Allan heißt das erst einmal, dafür zu sorgen, daß mehr junge Menschen den Weg in das Gemeindezentrum finden. Da baut er auf den Schneeballeffekt: »Wenn sich die jungen Leute untereinander erzählen, wieviel Spaß es macht, ins Gemeindezentrum zu kommen, lockt das auch die, die bisher nicht dabei waren.« Bei Chips und Süßigkeiten Filme anschauen oder Spieleabende gehören zum Programm. Bald soll ein Billardtisch geliefert werden. Allans Wunsch ist, daß die jungen Leute – die meisten sind zwischen elf und 20 Jahren – nach der Schule in das Gemeindezentrum kommen, um dort Hausaufgaben zu machen und sich mit anderen jüdischen Jugendlichen zu treffen. Etwa 45 kommen derzeit mehr oder weniger regelmäßig zu den Jugendterminen in die Gemeinde.
Wichtig findet Allan, daß sie eine Gruppe werden, eine Gruppe, die ihre jüdische Identität teilt. Doch wie sieht die aus? Die jungen Leute kennen die Grundlagen des Judentums oft nicht. Welche Feiertage es im jüdischen Kalender gibt, welche Bräuche und Rituale. Edelhajt weiß, daß es für Juden in der kommunistischen Sowjetunion sehr schwierig war, nach religiösen Regeln zu leben. »Doch viele der russischen Zuwanderer sind für mich ohnehin keine Juden. Denn sie haben nur einen jüdischen Vater. Da bin ich konservativ. Das ist ein Problem: Es gibt keine klare Richtlinie, wer in die Synagoge kommen darf und wer nicht. Doch wir bieten den jungen Leuten an, zu konvertieren.«
Allan bringt den Jugendlichen nun in der wöchentlichen Sonntagsschule bei, nach welchen Regeln ein Gottesdienst abgehalten wird: Einmal im Monat, Freitag nachmittag, sollen die Schüler den Gottesdienst dann selbst durchführen – als eine Art Probelauf vor dem regulären Ritus am Abend.
Die Tür geht auf, eine Frau steckt den Kopf herein und fängt an zu reden, bevor sie noch über die Schwelle getreten ist. »Ich spreche kein Russisch«, unterbricht Allan ihren Redeschwall, und die Dame wiederholt höchst erstaunt: »Sie sprechen kein Russisch?« bevor sie sich umdreht und die Tür leise hinter sich zuzieht. »Tja«, Allan grinst: »So ist es eben hier.«
Mitte Februar findet das erste Jugend-Seminar in Augsburg statt, zu dem junge Leute aus ganz Bayern erwartet werden. Ein erstes Projekt, das Allan ins Leben gerufen hat. Ein Sommer-Camp soll folgen. Als ehemaliger Kapitän des schwedischen Maccabi-Tennisteams liegt ihm auch der Sport am Herzen. Eine Augsburger Jugend-Fußballmannschaft will er gründen und selbst wieder aktiv Tennis spielen.
Viele Pläne, viele Baustellen. Elan und Durchhaltevermögen sind vonnöten. Beides scheint Allan zu besitzen. Seine ganz große Leidenschaft gilt jedoch der Musik, vor allem dem Singen. Als Kantor möchte er in Zukunft arbeiten. Doch Schulen, die Kantoren ausbilden, gibt es in Europa nicht. Und die Aussicht, in den USA oder in Israel zu studieren, klingt für ihn wenig verlockend. Zu weit weg von seiner Heimat und seiner Familie sei er da, findet er. Und wer einmal so weit weggehe, komme oft nicht mehr zurück. »Und in Europa braucht man doch auch Kantoren. Ich sehe meinen Platz, meine Lebensaufgabe hier – in Schweden oder in Deutschland. Denn ich möchte als Jude in Europa leben und dabei mithelfen, daß es hier wieder jüdisches Leben gibt.« Wenn es ihm gelingt, seine Pläne zu verwirklichen, wird er dazu sicher beitragen.
Grund zur Hoffnung gibt es jedenfalls in der Kultusgemeinde Augsburg: Zu Rosch Haschana sah die Synagoge so viele Besucher wie schon lange nicht mehr. Mehr als 600 sollen es gewesen sein.

Kultur

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