von Michael Schleicher
Lust auf einen Spaziergang? Keine Sorge, Sie können dabei sitzen bleiben. Dennoch wäre es schön, wenn Sie mitkommen würden. Treffpunkt ist der Viktualienmarkt. Dort, wo München ganz bei sich ist, und es dennoch genug Platz für die ganze Welt gibt. Rotwangige Marktweiber, die Schürzen straff um die Hüfte gebunden, wuchten Obstkörbe von da nach dort. Und wenn sie miteinander plauschen, kann der unwissende Beobachter den Eindruck gewinnen, daß sie streiten. Das stimmt natürlich nicht. Herzlich geht’s hier zu und der Viktualienmarkt ist auch wie ein großes Herz, von dem aus die Menschen in Strömen durch die Innenstadt gepumpt werden. Etwa an der neu errichteten Schrannenhalle vorbei, über deren Qualitäten Befürworter und Gegner noch in einigen Jahren debattieren werden, rüber auf den Sebastiansplatz. Der hat in den vergangenen Jahren seinen Hinterhofcharakter gegen das Image eines lebendigen Stadtplatzes eingetauscht, wobei sich die Aufenthaltsqualität nicht allein aus dem umfangreichen kulinarischen Angebot speist.
Von hier sind sie dann auch schon zu sehen, die hellen Quader, die in den Münchner Himmel ragen, drüben am neu- gestalteten Jakobsplatz. Mit einem Entwurf, der das neue Jüdische Zentrum auf unterschiedliche Kuben aufteilt, hat das Saarbrücker Architekturbüro Wandel-Hoefer-Lorch den internationalen Wettbewerb gewonnen. Ihr Beitrag ist der einzige gewesen, der die unterschiedliche Nutzung auf dem Platz – Hauptsynagoge, Gemeindehaus und Jüdisches Museum der Landeshauptstadt München – auf drei Gebäude aufgeteilt hat. Alle anderen Teilnehmer des Architektenwettbewerbs planten, einen Komplex auf den Platz zu setzen.
Nicht so die Saarbrücker: Geschickt haben sie die drei Gebäude, die trotz aller Unterschiedlichkeit die gemeinsame Handschrift nicht leugnen, auf dem Jakobsplatz plaziert. Dadurch wurde der Stadtraum neu definiert und für die Menschen wieder gewonnen. Die einstige Kriegswunde, eine Mischung aus schmutzig-traurigem Rasenstück, verlottertem Kinderspielplatz, wilder Parkfläche und Notdurftanstalt für Vierbeiner, zitiert mit der Neubebauung das historische Vorbild der Münchner Stadtplätze. Doch die Architektur will mehr sein als eine Hommage und bietet deshalb eine durchdachte Neuinterpretation des städtischen Platzes, wie ihn die Historiker kennen.
Die Bauwerke wollen als Skulptur verstanden sein. Am Augenfälligsten ist das bei der neuen Hauptsynagoge. Deren Fassade ist – wie die der beiden anderen Gebäude – mit demselben hell schimmernden Travertinstein verkleidet. Der Unter-
schied liegt in der Oberfläche – hier variiert die Struktur –, stammen die Platten doch aus unterschiedlichen Gesteinsschichten. Deshalb wirkt gerade die Hauptsynagoge wie aus Fels gehauen. Kraftvoll. Ihre Fassade ein Relief, stark die Struktur. Lebendig. Auf dieser wuchtigen Basis erhebt sich der mit einem feinen, rötlich schimmernden Metallgitter überworfene Glas-quader. Durch ihn flutet Tageslicht ins Innere. Das Glas ist hier nochmals von Rauten ummantelt, die sich beim konzentrierten Betrachten zu Davidssternen zusammenschieben lassen. An den Tempel (in Jerusalem) und das Zelt (die Heimat des jüdischen Volkes während des Zugs durch die Wüste) wollen die Architekten mit dieser Bauweise erinnern. Beim Jüdischen Museum haben sie diesen Gedanken auf den Kopf gestellt: Dort trägt der Glaskubus des Erdgeschosses das Gesteinsmassiv der oberen Stockwerke. Die klare Formsprache setzt sich auch beim Gemeindehaus fort, das den Jakobsplatz optisch einfaßt und einen mutigen Kontrapunkt zur bestehenden historischen Bebauung gegenüber setzt, in der unter anderem das Münchner Stadtmuseum sowie das Filmmuseum beheimatet sind.
Das Arrangement des Komplexes schließt den Jakobsplatz gerade soweit ab, daß er sich in Richtung Marienplatz öffnen kann. Mit seinen Bäumen und Bänken, der Freischankfläche des Museumscafés und dem (Wasser-)Spielplatz ist der Jakobsplatz zu einem »Forum« im Wortsinne, einem Ort der Kommunikation geworden.
Verstärkt wird dies durch die Tatsache, daß das einstige Parkhaus am Oberanger dem Angerhof, einem eleganten Stadthaus, gewichen ist. Da sowohl das Jüdische Zentrum auf dem Jakobsplatz als auch der angrenzende Angerhof wert auf Durchlässigkeit und gestalterische Transparenz legen, kann der Spaziergänger nun vom Viktualienmarkt über den Sebastiansplatz, Jakobsplatz und Angerhof hinauf zum Sendlinger Tor flanieren.
Hier wird bis 2008 (der Fertigstellung des Angerhofs) das historische Angerviertel als Stadtraum neu definiert und erlebbar gemacht. In jenem Jahr feiert München im übrigen seinen 850. Geburtstag – gibt es ein idealeres Geschenk als ein neues Stadtviertel?