von Christine Schmitt
Die Taschenlampe baumelt an seinem Handgelenk. Gerhard Sachs ist gut gerüstet für einen Rundgang durch das seit Jahren verlassene Haus. Der Ingenieur steht vor der Villa Hirsch im brandenburgischen Eberswalde und studiert die verblichene Fassade. Schon vor längerer Zeit hat er im Auftrag der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben Cottbus ein kleines Schild daran angebracht: »Grundstück zu verkaufen«. Doch Interessenten gibt es kaum.
An diesem grauen Tag kommen ebenfalls keine potenziellen Käufer. Stattdessen erscheinen Roland Gabsch, Leiter der Unteren Denkmalschutzbehörde Eberswalde, und Uri Faber von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Gabsch interessiert, ob es noch jüdische Einrichtungen in der Villa gibt, die es zu bewahren gilt. Als Experten hat er sich Uri Faber mitgebracht. Die beiden wollen aber nicht nur die Villa Hirsch begutachten, sondern auch die historische Sukka, die auf einem Balkon im ehemaligen sogenannten Hüttenamt steht. Beide Häuser gehören zum denkmalgeschützten Messingwerk. Bis 1932 wohnte hier die Industriellenfamilie Hirsch. Während für die Villa noch ein Käufer gesucht wird, ist das Hüttenamt bereits in den Besitz der Eberswalder Wohnungsbau-Gesellschaft übergegangen und wird saniert.
»Glücklicherweise gibt es nur wenige bauliche Veränderungen«, sagt Sachs, während er die Tür der Villa Hirsch aufschließt und in die imposante Eingangshalle tritt. 1916 hatte Aron Hirsch den Architekten Paul Mebes mit dem Umbau eines vorhandenen eingeschossigen Wohnhauses und dem nebenliegenden Spritzenhaus beauftragt. »In Berlin hätten die Käufer nach so einem Objekt Schlange gestanden«, sagt Sachs. Doch eine ganze Autostunde von der Hauptstadt entfernt, ist die Villa nicht sehr attraktiv. Seit der Wende hat die Kreisstadt Eberswalde ein Fünftel ihrer Einwohner verloren.
Uri Faber schaut auf die blauen Fußbodenfliesen im Erdgeschoss, dann mustert er die roten Fliesen, ein Stück weiter entfernt. »Stammen die aus der Bauzeit?« fragt er. Ingenieur und Denkmalschützer sind sich nicht ganz sicher. »Das hier könnte die milchige Küche gewesen sein, und der rote Bereich der fleischige«, erklärt Faber. »Die Fliesen werden noch genau untersucht«, verspricht Gabsch. Wenn sie aus der Bauzeit stammen, würden sie unter Denkmalschutz gestellt, sorgfältig dokumentiert, und der neue Besitzer dürfte sie nicht entfernen. Mit dem Taschenlampenlicht strahlt Gerhard Sachs auf die dunklen Stufen, die in den Keller führen. Er ist ganz begeistert von der Heiztechnik, die für die damalige Zeit neuartig war. »Das ist ganz typisch für die Hirschs«, sagt Faber. Die Familie gehörte der Neo-Orthodoxie an und verstand es, die Gesetzeserfüllung mit den Errungenschaften moderner Technik zu verbinden. Der vorherige Besitzer des Werkes, Aron Hirschs Onkel Gustav, hatte in Berlin die Gemeinde Adass-Jisroel mit gegründet. Die 1889 errichtete Synagoge in Eberswalde dürfte er kaum besucht haben, vermutet Gabsch. Denn er wollte mit der Gemeinde nichts zu tun haben. Gustav Hirsch hatte seinen eigenen Minjan.
»Dass einer der Kellerräume rot ist, und die anderen Räume in anderen Farben gestrichen sind, könnte bedeuten, dass hier eine weitere fleischige Küche war«, sagt Faber. Die genutzt wurde, wenn große Gesellschaften eingeladen waren. Ob es sich um die Orginalfarbe handelt, muss noch untersucht werden. Weiter geht es durch die früheren Schlafzimmer, Ankleideräume, die Bibliothek, die Badezimmer, durch die Salons, die Zimmer fürs Personal und über den Dachboden.
»Hier war der Durchgang zur Witwenwohnung«, sagt Gerhard Sachs. Vermutlich habe Gustav Hirschs Frau Amalie nach dessen Tod aus der Villa ausziehen müssen, um dem neuen Geschäftsführer, ihrem Sohn Siegmund, Platz zu machen und bekam eine Wohnung im angrenzenden Hüttenamt. Der Durchgang zwischen Villa und Witwenwohnung ist heute verschlossen. Also gehen die drei Männer durch den Garten zur ehemaligen Wohnung von Witwe Hirsch mitsamt Laubhütte. Hier dröhnen Bohrer und Presslufthammer.
»Die Sukka konnte nur deswegen so lange überdauern, weil das Holz mit Schiefer geschützt ist«, sagt Gabsch. Mit einem Seilsystem kann das Dach geöffnet werden. Und einen Lichtschalter aus dem Jahr 1916 gibt es auch. »Es ist eine wunderschöne Laubhütte«, findet Uri Faber. »Eine Sensation«, sagt Rolf Rossmeissl, Historiker und Sukka-Experte. Sie sei ein »Zeitzeugnis ersten Ranges«. Nicht einmal zehn Laubhütten seien noch in Deutschland vorhanden, schätzt er. Und keine sei ihm bekannt, die der orthodoxen Richtung entspreche. Gerhard Sachs leuchtet die Wandmalereien an. »Das Auge und der Davidstern haben uns den letzten entscheidenden Hinweis gegeben, dass es eine Sukka ist«, sagt Gabsch.
»Zwischen 1917 und 1920 muss Amalie Hirsch hier eingezogen sein«, weiß Denkmalschützer Gabsch aus alten Adressbüchern. Die Sukka müsse vorher schon existiert haben, sie werde auf 1916 datiert. Unangetastet überdauerte sie bis heute. Doch was soll nun mit ihr passieren? »Sie wird abgetragen und woanders aufgebaut«, sagt Rainer Wiegandt, Geschäftsführer der Wohnungsbau- und Hausverwaltungsgesellschaft Eberswalde. »Sie ist unbedingt erhaltenswert an diesem Ort«, sagt Uri Faber. Sie sei kein sakrales Objekt, der zukünftige Mieter könne sie profan nutzen.
Wiegandt hat andere Pläne: Von einem Laubengang aus sollen die Wohnungen, die hier entstehen, betreten werden, da störe die Hütte, sagt er. »Sie verliert an Kraft und Zeugnischarakter, wenn sie an einen neuen Ort kommt«, meint Gabsch. Der Laubengang könne an ihr vorbeiführen.
Eine Woche später ist die Sukka abgetragen und bei einem Tischler eingelagert. Dort harrt sie jetzt ihres Schicksals.