Herr Professor Rosenfeld, gibt es jüdischen Antisemitismus?
rosenfeld: Ich würde gerne sagen, nein. Aber leider existiert er. Er hat eine lange Geschichte, die mindestens bis ins Mittelalter zurückreicht. Wenn man sagt, dass es einen jüdischen Antisemitismus gibt, erzählt man leider nichts Neues. Zur Zeit ist er allerdings wieder so verbreitet wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr.
Der deutsche Publizist Sergey Lagodinsky sagt, dass es Juden gibt, die sich antisemitisch verhalten oder sich antisemitisch äußern, glaubt aber, dass es über- trieben ist, von »jüdischem Antisemitismus« zu sprechen. (Vgl. Jüdische Allgemeine vom 26. April.)
rosenfeld: Ich halte mich mit dem Begriff Antisemitismus sehr zurück. Von Zeit zu Zeit ist er jedoch angebracht. Antisemitismus verändert sich im Laufe der Zeit. Der heutige Antisemitismus hat wenig zu tun mit dem christlichen Antijudaismus oder dem rassischen An- tisemitismus der Nazis. Heute zeigt er sich in der extremen Feindseligkeit gegen jede Ausprägung jüdischen Nationalgefühls und seine Verkörperung, den Staat Israel.
Sie sagen, dass jüdischer Antisemitismus zunimmt. Woran liegt das?
rosenfeld: Es hat einmal damit zu tun, dass der Antisemitismus seit dem Jahr 2000 insgesamt angestiegen ist. Manche Juden reagieren darauf, indem sie abstreiten, überhaupt jüdisch zu sein. Sie wären als Juden lieber unsichtbar. Es ist ihnen unangenehm, wenn Juden zu sehr im Mittelpunkt der Aufmerksam- keit stehen. Manche präsentieren sich als »gute Juden«, die sich vom jüdischen Staat distanzieren und ihn als militaristisch, nationalis- tisch, theokratisch bezeichnen. Die Art und Weise, wie sie das tun, verbindet sie häufig mit Antisemiten.
Ihr Essay »,Fortschrittliches‹ jüdisches Denken und der Neue Antisemitismus« hat in den USA eine Flut von Reaktionen ausgelöst. Wieso haben Sie damit einen Nerv getroffen?
rosenfeld: Hauptsächlich, weil die New York Times über meinen Essay berichtet hat. In dem Artikel wurde behauptet, ich würde liberale Juden mit Antisemitismus in Verbindung bringen. 85 bis 90 Prozent der amerikanischen Juden definieren sich selbst als »liberal« im amerikanischen Sinne, also linksliberal, und fühlten sich diffamiert. Aber in meinem Text benutze ich nirgends das Wort »liberal«, sondern »progressiv«. Diese Unterscheidung ist wichtig. Viele der heftigen Reaktionen beruhen auf diesem Missverständnis. Der Finanzmagnat George Soros hat mir vorgeworfen, ich würde allen progressiven Juden »jüdischen Selbsthass« vorwerfen. Aber auch diesen Begriff finden Sie nirgendwo in meinem Artikel.
Wie beurteilen Sie die starke Medienpräsenz von jüdischen »Israelkritikern« wie Alfred Grosser, Tony Judt, Uri Avnery oder Noam Chomsky in Deutschland?
rosenfeld: Das Phänomen, über das wir reden, zeigt sich in jedem westlichen Land, einschließlich Israel. Deutsche sind wegen ihrer Vergangenheit vorsichtig, wenn sie sich in der Öffentlichkeit über Juden und Israel äußern. Daher beziehen sich diejenigen, die etwas gegen Juden und Israel haben, auf Leute wie Chomsky oder Judt. Sie spielen jüdische Stimmen gegen jüdische Interessen aus und bleiben selbst im Hintergrund. Es ist bequemer, seine Ressentiments nur indirekt auszudrücken, indem man gewissen Juden zustimmt, die sie ganz unverblümt äußern. Chomsky ist in Europa viel populärer und wird dort viel mehr als legitimer jüdischer Sprecher gesehen als in den USA.
Die Genannten würden Sie also explizit als jüdische Antisemiten bezeichnen?
rosenfeld: Ich bezeichne diese Leute nicht als Antisemiten und habe das auch in meinen Texten nicht getan. Aber ganz sicher tun sie sich schwer mit dem jüdischen Staat. Und wenn man sich nicht nur anhört, was sie sagen, sondern auch den Ton, in dem sie es sagen, dann findet man bei ihnen tiefe Erbitterung, Feindseligkeit und sogar Wut. Das heißt nicht, dass sie Antisemiten sind, wohl aber, dass Israel für sie, als Juden, ein großes Problem ist. Ein Professor des Bard-College bei New York, Joel Kovel, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel »Overcoming Zionism«. Darin schreibt er, dass Israel ein rassistischer Staat sei, der kein Recht habe, zu existieren. Kovel hat einen jüdischen Hintergrund, definiert sich aber nicht als Jude – außer in seinem Widerstand gegen Israel. Er ist ein Beispiel dafür, wie einige ihre Identität als Jude gerade in ihrer Feindschaft gegen Israel finden.
Warum entdecken so viele Leute gerade dann ihren jüdischen Hintergrund, wenn sie Israel kritisieren?
rosenfeld: Da muss man sich jeden Einzelfall ansehen. Aber ein bisschen kann man schon verallgemeinern. Um an dem teilzuhaben, was heute allgemein als links gilt, glauben viele, sie müssten gewisse Anschauungen unterschreiben. Es gibt bestimmte »Anti«-Begriffe, die man sich zueignen muss: Antikapitalismus, Antiglobalisierung, Antiamerikanismus und oft Antiisraelismus. Wenn man ein Linker sein will, muss man, so meinen diese Leute, das ideologische Gesamtpaket kaufen. Sonst wird man aus der Gruppe ausgeschlossen, verliert sein Ansehen, seinen Ruf, sein Umfeld, wird an den Rand gedrängt. Das möchte niemand, also geben sie dem Gruppendruck nach und schließen sich der übertriebenen Israelkritik an. Ich bin kein Psychoanalytiker, aber in einigen Fällen haben wir es sicher auch mit individuellen Pathologien zu tun.
Hat Antiisraelismus eine besondere Qualität, wenn er von Juden kommt, oder ist das nicht nur ein Teil einer breiteren antizionistischen Strömung?
rosenfeld: Sicher ist es das. Aber ich bin selber Jude, und mir liegt die Zukunft der Juden, und das heißt ja auch meiner Kinder und Enkel, sehr am Herzen. Diese Zukunft kann ich mir ohne den Staat Israel nicht vorstellen. Und solange der jüdische Staat umkämpft bleibt und seine Zukunft (und damit auch unsere) alles andere als gesichert ist, halte ich es für die Pflicht aller Juden, diejenigen nicht auch noch zu unterstützen, die Israel verschwinden sehen möchten. Daher beschäftige ich mich besonders mit jüdischen Israelkritikern. Ein anderer Grund ist der schon erwähnte, dass es Antisemiten ihren Job erheblich erleichtert, wenn sie ihre Anklagen von jüdischen Sprechern bestätigen lassen können. Der Jurist Richard Falk von der Universität Princeton zum Beispiel bezeichnet die israelische Politik wörtlich als »genozidal« und behauptet, den Palästinensern stünde ein »Holocaust« bevor. Das ist ein gefundenes Fressen für Antisemiten. Denn Falk bezeichnet sich selber als Jude, und folglich kann jeder Antisemit sagen: »Na bitte, die sagen’s ja selbst.«
Also sind das Hauptproblem nicht die jüdischen Antisemiten selbst, sondern eher diejenigen, die sich auf sie berufen?
rosenfeld: Beide sind das Problem. An vielen amerikanischen Universitäten und Colleges ist Antizionismus gleichsam Teil des Lehrplans, und etliche der Dozenten sind jüdisch – das verleiht ihnen ein Standing, das sie sonst nicht hätten. So dringt der Antizionismus von den Rändern in den Mainstream vor.
Gibt es denn auch linke, progressive Juden, die pro-israelisch sind?
rosenfeld: Natürlich. Nehmen Sie etwa den Philosophen Michael Walzer und sein Dissent Magazine. Oder die englische Engage-Website (www.engageonline.org.uk) oder das Euston Manifesto, das vorwiegend britische Akademiker verfasst haben, um gegen Antisemitismus auf der Linken zu protestieren. Aber solche Leute haben viel weniger Einfluss als die andere Seite.
Haben einige der Kritisierten ihre Meinung inzwischen geändert? Haben Sie eine selbstkritische Debatte angestoßen?
rosenfeld: Ja. Ein Beispiel: Der Forward, eine linksliberale, ursprünglich jiddische Zeitung, hat einen bissigen Leitartikel gegen meinen Text gebracht mit dem Titel »Infamie«. Noch nie habe ich im Forward einen so harschen Artikel gelesen. Und das in einer Zeitung, für die ich selber schon geschrieben habe. Man warf mir vor, ich wolle Andersden- kende zum Schweigen bringen. Nach einem Gespräch mit mir sagte mir der Herausgeber des Forward, nun würde er anders über meine Thesen denken. Und einige Wochen später erschien ein Essay eines anderen Autors im Forward, mit dem Titel »Alvin Rosenfeld hat recht«. Und die Debatte geht weiter. Im Oktober gibt es in New York eine Konferenz, die sich mit meinen Thesen beschäftigen wird, und nächsten Frühling eine Konferenz in Boston. Einige scheinen ihre Position also zu überdenken.
Das Gespräch führten Ingo Way und Benjamin Weinthal.