Religiöse Unterschiede
von Rabbiner Mitchell Wohlberg
Obwohl Chanukka und Weihnachten zwei verschiedene Dinge sind, haben sie doch eins gemeinsam: Einige Menschen wollen sie uns wegnehmen! In den USA gibt es Supermarktketten, die ihre Filialen anweisen, keine »Frohe Weihnachten«-Plakate aufzuhängen und statt dessen auf »Frohe Feiertage« umzusteigen. New Yorks Bürgermeister Bloomberg betont stets, der Baum, der vor dem Rathaus aufgestellt wird, sei kein Weihnachtsbaum, sondern ein »Feiertagsbaum«. Und der Gründer der Firma, die Karten mit Grüßen zu »Chrismukka«, der amerikanischen Entsprechung von »Weih-
nukka«, produziert, betont: »Es ist nicht unsere Absicht, die religiösen Aspekte dieser Feiertage zu betonen, sondern die säkularen.« Dabei ist genau das unser Problem. Chanukka ist kein säkulares Fest, ebenso wie Weihnachten.
Chanukka feiert den Sieg unserer religiösen Freiheit. Hätten die Makkabäer ihre Schlacht verloren, dann gäbe es heute kein Judentum. Und es gäbe auch keine Christen. Nicht umsonst gab es bis zum fünften Jahrhundert im kirchlichen Kalender einen Tag zu Ehren der Makkabäer. Vermutlich kannten viele Christen deren Heldengeschichte sogar besser als viele Juden, denn das Buch der Makkabäer wurde einst in die christliche Bibel aufgenommen, nicht aber in die jüdische. Es waren jüdische Märtyrer, die jene Christen inspirierten, die in die Hände der Römer gefallen waren. Jeder müßte verstehen, daß am Sieg der Makkabäer nichts Weltliches ist. Also sollte er auch nicht so gefeiert werden. Wenn man es doch tut, geht die ganze Botschaft verloren.
Weder die USA noch Deutschland sind christliche Län-
der. Aber die überwältigende Mehrheit beider Völker sind Christen. Weih- nachten sollte deshalb in diesen Ländern als das reli-
giöse Fest gefeiert werden, das es ohne Zweifel ist. Die nicht-christlichen Minderheiten sind nicht gezwungen, mitzufeiern. Sie möchten an Heiligabend früh aufstehen und zur Arbeit gehen? Niemand wird Sie aufhalten. Und niemand wird Sie zwingen, einen Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer zu schleppen.
Für mich als Amerikaner beweist das öffentliche Begehen von Weihnachten und Chanukka die amerikanische Vielfalt im besten Sinne. Viel besser, als es die Verbannung religiöser Symbole vermag, die etwa in Frankreich praktiziert wird. Warum sollten Kinder gezwungen werden, ihre religiöse Identität zu verschleiern, statt stolz auf sie zu sein? Warum sollen in »gemischten« Ehen nicht beide Partner ihr jeweiliges Fest feiern, statt es zu einem gemeinsamen zu verpanschen?
In nur einer Generation sind wir von antijüdischen Pogromen, die von der Kirche ausgegangen sind, so weit gekommen, daß jüdische Delegationen sich freundschaftlich mit dem Papst treffen. Wir sind keine gegenseitigen Feinde mehr, sondern haben gemeinsame Gegner: Atheismus, Materialismus, Krieg, Armut, Engstirnigkeit und Ignoranz sowie, tragischerweise, bis zu einem gewissen Grad, den Islam. Die Ziele und messianischen Träume von Juden und Christen sind dieselben: Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Liebe und Frieden.
Wir Juden sollten Chanukka sein »Ch« zurückgeben. Und, ja, lassen wir die Christen wieder Jesus Christus ins Zentrum des Weihnachtsfests stellen. Wir sollten nicht versuchen, unsere Religionen zu verweltlichen oder die Unterschiede zu verwischen. Wir sollten statt dessen lernen, die jeweils andere Religion zu respektieren.
Weltliche Einheit
von Cilly Kugelmann
»Verwässern« kann man nur etwas, das eine eindeutige und feststehende Rezeptur aufweist. Kultur, zu der auch die Religionen zählen, ist etwas Lebendiges, das sich unablässig an neue politische und soziale Bedingungen anpaßt. Das Judentum vor 200 Jahren ist nicht identisch mit dem, was wir heute darunter verstehen oder wie wir es heute leben. Man kann die Tora und den Talmud als ständige Auseinandersetzung mit kontroversen Deutungen lesen, wobei die berühmten Streitgespräche zwischen den rabbinischen Schulen von Hillel und Schamai keine Ausnahme bilden. Die mittelalterlichen Responsen, die zur Klärung strittiger, halachischer Fragen dienten, legen Zeugnis ab von einem sich ständig verändernden religiösen Alltag. Was koscher ist und was nicht, wie ein Feiertag gefeiert wird, wie die Toten begraben werden und wo, welche Gerätschaften zum Kochen oder zum Kiddusch machen erlaubt sind, das alles war stets klärungsbedürftig und wurde von Fall zu Fall, von Region zu Region und von Zeit zu Zeit anders entschieden.
Auch die Feiertage haben ihre Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte. Die Objekte, die als Judaica oder als »Zeremonialgerät« in Museen gesammelt werden, zeugen vom Kontext, in dem sie entstanden sind. Die als sternförmige Schabbat-Lampe bekannte Leuchte aus der späten Neuzeit, die so für den Schabbat konstruiert wurde, daß sie den ganzen Freitagabend über Licht gab, war in jüdischen Haushalten noch bis ins neunzehnte Jahrhundert üblich, als es längst Petroleum- oder Gaslampen gab. Dies ist ein Beleg dafür, daß sich Brauchtum oft länger hält, als es die technische Entwicklung nötig macht. Das Judentum hat sich in einem charakteristischen Zusammenspiel von Traditionalismus und Veränderungsfähigkeit erhalten. Es ist diese Flexibilität, die für das Überleben von religiösen Kulturen verantwortlich ist – nicht das Festhalten an rigiden Formen.
Was Chanukka anbetrifft, so nimmt dieser Feiertag, trotz und wegen seiner relativen theologischen Bedeutungslosigkeit eine interessante Sonderstellung in der Geschichte des jüdischen Festtagszyklus ein. Im Prozeß der rechtlichen Gleichstellung der Juden mit der übrigen Bevölkerung in Deutschland veränderte sich ihre Auffassung von den Heiligen Schriften und führte zu einer radikalen Neufassung von Liturgie und Gottesdienst. Gegen die neu entstandene jüdische Reformbewegung, die den Talmud als lediglich historischen Text und nicht mehr als eine der verbindlichen ethischen Grundlagen betrachtete, formierte sich die Neo-Orthodoxie, die an der Einhaltung der rituellen Gesetze festhielt. Schon zu diesem Zeitpunkt betrachtete die jüdische Aufklärung die beiden nicht-biblischen Feiertage, Chanukka und Purim, mit kritischem Abstand und Unbehagen.
Je säkularer die Juden wurden, desto mehr identifizierten sie sich mit der deutschen Kultur, je bürgerlicher ihr Lebensstandard wurde, desto mehr orientierten sie sich am Lebensstil ihrer christlichen Nachbarn. Dazu gehörte auch das Weihnachtsfest, das gerade in Deutschland zu seiner heute bekannten Form reifte. So sind der Weihnachtsbaum, die Christbaumkugel, der Adventskranz und die familiäre Zuwendung typische Elemente, die von Deutschland aus ihren Siegeszug durch die Welt antraten. Wer weiß, wie Weihnachten ohne die deutschen Emigranten in den USA heute aussehen würde? Viele jüdische Familien, die wohlhabenden und bürgerlichen zumal, begannen Weihnachten zu feiern, sozusagen als »deutsches Fest«. Wie viele von diesen Familien auch gleichzeitig Chanukka gefeiert haben, wissen wir nicht. Das spöttische »Weihnukka«, das aus zionistischen Kreisen den jüdischen Weihnachtsfans entgegengehalten wurde, kritisierte nicht die Erfindung eines neuen Festes, sondern den Umstand, daß Chanukka auf dem Altar der Anpassung als Ausdruck der Identifikation mit der deutschen Kultur geopfert wurde.
Der wahre Übergang zu einer Symbiose zwischen diesen beiden Feiertagen ist jedoch erst in den USA entstanden, wo weit über die Hälfte aller Juden inzwischen in sogenannten interkonfessionellen Ehen lebt. Der hohe Anteil an Familien mit einem christlichen und einem jüdischen Partner hat dazu geführt, daß beide Feiertage gefeiert werden. Die Industrie hat sich auf diese Kundengruppe eingestellt und produziert immer mehr »Christmukkah«-Artikel. In der Welt der unhinterfragbar Frommen in den jeweiligen religiösen Lagern ist die Frage nach dem Erlaubten und dem Unangemessenen genau so müßig wie in dem Milieu der schwankenden Säkularen. Beide tun ohnehin, was sie für richtig halten.
Was bezeugt mehr Veränderung und »Verwässerung« der jüdischen Tradition als der Bedeutungswandel des Namens Makkabi? Die Makkabäer, die in der Antike für den erbitterten Kampf gegen das hellenisierte und säkulare Judentum standen und an Chanukka gefeiert werden, wurden Namenspatrone für Sportvereine, und damit für das als »unjüdisch« verachtete »Gymnasium«. Vom Bier gar nicht zu reden ...