Köln/Düsseldorf

Vertrauen per Telefon

von Anette Kanis

Das Telefon klingelt. Eine Frau erzählt aufgeregt, der Sohn bedrohe den Vater mit dem Messer. Ein Familienstreit – entzündet an Kleinigkeiten wie Rauchverbot und Essensvorlieben – war eskaliert. Zunächst sei sie im Gespräch um Schadensbegrenzung bemüht gewesen, erinnert sich Maria Gus, die in Düsseldorf das Vertrauenstelefon koordiniert. Später habe sie die tiefer liegenden Probleme abgeklärt. Lange Gespräche mit Vater und Sohn folgten.
Die jüdische Hotline ist für viele Menschen Anlaufstelle in akuten Konfliktsituationen, aber ebenso bei längerfristigen Problemen. Vor sieben Jahren gründete die aus Estland stammende Psychologin Maria Gus das Vertrauenstelefon der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Ende vergangenen Jahres wurde sie dafür mit dem SPD-Preis »BürgerInnen-Engagement« ausgezeichnet. Mit dem Thema Telefonseelsorge hatte sich die heute 60-Jährige bereits in ihrer Heimat Estland beschäftigt. Sie war eine der Gründerinnen des ersten Vertrauenstelefons, das in der ehemaligen Sowjetunion eingerichtet wurde.
Auch die Kölner Synagogen-Gemeinde hat ein erfolgreiches Vertrauenstelefon aufgebaut. Mittlerweile leisten in beiden Städten jeweils knapp zwanzig ehrenamtliche Mitarbeiter Telefondienst. Sie erhalten eine 60-stündige Basisausbildung in Gesprächsführung und Konfliktberatung, treffen sich regelmäßig zum Austausch und werden inhaltlich unterstützt von den Rabbinern der Gemeinde.
»Die Qualität der Anrufe hat sich in den vergangenen Jahren verändert«, sagt Stella Shcherbatova. Die Psychologin koordiniert das Projekt gemeinsam mit Irina Rabinovitch, die auch Sozialarbeiterin der Kölner Gemeinde ist. Zu Beginn der Zuwanderung haben Sprach- und Mentalitätsprobleme, Arbeits- und Wohnungssuche im Vordergrund gestanden, so Stella Shcherbatova. »Jetzt brauchen die Menschen verstärkt jemanden, der ihnen bei ihren psychologischen Problemen hilft.« Ihre Ursachen sind unterschiedlich, doch zeigen die Erfahrungen aus Köln und Düsseldorf gewisse Grundmuster. Probleme zwischen Ehepartnern, Zunahme der Scheidungsrate, Entfremdung der Generationen, Identitätsprobleme – Schlagworte für individuelle Lebensgeschichten, die durch die Immigration aus den Fugen geraten sind. »Die Kinder sind meist besser integriert, sprechen besser deutsch und können nicht verstehen, warum die gut ausgebildeten Eltern zu Hause sitzen und Sozialhilfe beziehen – das hat Konfliktpotenzial«, fasst Maria Gus zusammen. Kinder übernehmen, zumindest zeitweise, die Erwachsenenrolle, helfen bei Ämtergängen, verfassen Briefe, fungieren als Sprachrohr nach außen. Aber auch zwischen den Partnern komme es häufig zu einer Umverteilung der Rollen. Frauen würden sich besser und schneller integrieren. »Der eine Ehepartner findet sich zurecht, der andere nicht.« Irina Rabinovitch erzählt von zahlreichen Anrufen, in denen es um damit verbundene Eheprobleme geht. Oft liege es an der Arbeitslosigkeit, besonders des Mannes, der dadurch seine Autorität verliere.
Kürzlich hatte eine ältere Frau angerufen, um Hilfe zu erbitten: sie brauche russischsprachiges Fernsehen. Die Mitarbeiterin am Vertrauenstelefon hakte nach. Schnell stellte sich heraus, dass hinter der Bitte um Hilfe beim Fernsehprogramm sich Einsamkeit, verzweifelte Suche nach Kommunikation, Depressionsneigung verbargen. »Das Thema Verlust bestimmt zunehmend die Anrufe«, sagt die Psychologin Stella Shcherbatova, »in vielerlei Hinsicht.« Neben dem Tod des Ehepartners hört sie aus der mittleren Generation von der tiefen Enttäuschung, wenn ein Elternteil gestorben ist. »Wir sind nach Deutschland gekommen, damit unsere Eltern hier einen ruhigen Lebensabend haben, jetzt ist der Vater gestorben. Wie kann ich das überleben?«
Das Vertrauenstelefon hat sich als niedrigschwelliges Angebot für russischsprachige Gemeindemitglieder schon lange etabliert. Im vergangenen Jahr wurden beim Europäischen Flüchtlingsfonds beantragte Gelder bewilligt. Damit finanziert die Kölner Synagogen-Gemeinde jetzt die bislang auf ein Jahr befristete Stelle eines Psychotherapeuten. »Wenn die Kapazitäten unserer Ehrenamtlichen am Vertrauenstelefon erschöpft sind, gibt es nun die Möglichkeit persönlicher psychologischer Beratung«, sagt Irina Rabinovitch. »Unser Ziel ist es, den Anrufer auf diese Entscheidung vorzubereiten, psychologische Beratung hat nur dann Sinn, wenn der Betroffene sich selbst dafür entschieden hat, er muss bereit sein, das anzunehmen«, erklärt Stella Shcherbatova. Neben der Einzelberatung werden auch Informationsabende, Selbsthilfegruppen sowie eine neue Rubrik im Gemeindeblatt mit dem Titel »Psychologe antwortet« angeboten.
Das psychologische Beratungsangebot richtet sich auch an Kinder und Jugendliche. Denn diese hätten nicht weniger Probleme als die Eltern, nur andere. »Sie haben das wichtige Gefühl verloren, dass ihre Familie unerschütterlich und stark ist«, sagt die Psychologin Stella Shcherbatova. Für Kinder sei es wichtig, dass sie ihre Familie als Insel begreifen können, die immer Schutz biete. Diese Sicherheit sei ins Wanken geraten. Eltern und Großeltern übertrügen ihre eigene Unsicherheit auf die Kinder, verlören an Autorität, sei es durch ihre Arbeitslosigkeit oder aufgrund ihrer Sprachprobleme. Dadurch baue sich beim Kind eine negative Lebenshaltung auf. Die Kinder würden sich dann entweder von der Familie abwenden oder ihr eigenes Selbstbewusstsein verlieren. »Gezielte psychologische Beratung kann hier helfen«, ist sich Stella Shcherbatova sicher.
Eine Neuerung gibt es ab April auch in Düsseldorf. Dann soll mit Telefonberatung auch auf Deutsch begonnen werden. Bislang sprechen die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer am Vertrauenstelefon vornehmlich russisch. »Dieses Angebot wollen wir noch weiter ausbauen«, sagt Maria Gus, »um das Vertrauenstelefon verstärkt als jüdische Hotline zu etablieren.« Am liebsten würden die drei Koordinatorinnen das Vertrauenstelefon bundesweit organisieren. Der Bedarf wäre gewiss da, da sind sie sich sicher.

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