von Katrin Richter
Rote Gesichter, verschwitze T-Shirts, lautes Atmen: Die erste halbe Stunde in dem kleinen Studio unter dem Dach ist geschafft. Wer jetzt noch nicht angestrengt aussieht, ist entweder schon länger dabei oder einer der beiden Trainer, die die rund 25 Männer und Frauen der Krav-Maga-Gruppe in Berlin-Neukölln trainieren.
Krav Maga ist hebräisch, heißt Kontaktkampf und erfreut sich in Deutschland zunehmender Beliebtheit. Die Selbstverteidigungstechnik wurde Mitte der 30er-Jahre in der Slowakei von Imi Lichtenfeld erfunden, um sich gegen die zunehmenden Überfälle antisemitischer Gruppen zu wehren. Lichtenfeld war versierter Boxer, Ringer, Turner und Schwimmer und gewann schon in jungen Jahren mehrere Meisterschaften. Nachdem er 1940 nach Palästina emigriert war, unterrichtete er seine Kampftechnik bei der Untergrundorganisation Hagana. Bereits acht Jahre später war er Ausbilder in der israelischen Armee. Militärisch ist der Ton der Trainer in der Neuköllner Sportschule zwar nicht, aber die Anweisungen lassen an Klarheit keine Wünsche offen: »Paare bilden, »Arme nach vorne«, »Beine hoch«.
Vor dem Krav-Maga-Training muss man es allerdings zunächst einmal ohne Fahrstuhl in den vierten Stock schaffen. »Wer danach pustet, ist hier genau richtig, denn die Teilnehmer müssen nicht fit sein, sie sollen fit werden«, grinst Pascal Nagel, der den schönen Titel Krav-Maga-Master-Instruktor trägt. Der 38-jährige Berliner – breite Schultern, kräftige Statur, durchdringende Augen – entdeckte vor etwa acht Jahren seine Leidenschaft für die israelische Kampftechnik. »Ich fand es so spannend, dass ich sagte, das muss ich unbedingt machen.« In Intensivkursen, die vorwiegend in Süddeutschland oder in der Schweiz angeboten wurden, ließ er sich zum Krav-Maga-Lehrer ausbilden. Einige Aufbauseminare später bildet er zusammen mit seinen Kollegen selbst Lehrer aus, unterrichtet Polizisten und gibt Einzelstunden.
Los geht’s: Erst einmal locker vorwärts laufen, jeder in seinem Tempo. Dann seitlich laufen, rückwärts, über Kreuz, in die Hocke gehen und weiter. Die Fortgeschrittenen boxen während des Laufens mit ihren Armen in die Luft. Und stopp. Doch von Atempause keine Spur. Es folgen verschiedene Arm-Bein-Übungen, Liegestütze, Dehnübungen. An welchen Stellen sie am nächsten Tag Muskelkater haben werden, ahnen Anfänger schon jetzt. Auf dem hellen Studioboden zeugen kleine Schweißpfützen von den Anstrengungen der vergangenen 30 Minuten. Pustend stehen sich Anfänger, die nach ihrer Wasserflasche schielen, und Fortgeschrittene in Zweiergruppen gegenüber. Dass hier alle gemeinsam und abwechselnd miteinander trainieren, gleich welchen Trainingsstand sie haben, ist beabsichtigt. »Das verleiht Selbstsicherheit und pusht. Außerdem sollte nicht jeder große Mann über- und nicht jede kleine Frau unterschätzt werden«, betont Nagel. Der älteste Teilnehmer ist 60, die jüngste 18. Das Einstiegsalter für Krav Maga variiert: Können Mädchen schon mit 15 mit dem Training anfangen, so werden Jungs erst ab 18 angenommen. »Das Potenzial bei Mädchen zwischen 15 und 18 ist anders. In diesem Alter sind Frauen einfach nicht so aggressiv wie Männer«, sagt Nagel, der sich bei Bedarf auch schon mal ein polizeiliches Führungszeugnis zeigen lässt, um sicherzugehen, dass sein Kurs nicht zu einem Kräftemessen von Spätpubertierenden wird.
Einige kennen Krav Maga von israelischen Freunden oder Studienaufenthalten in Israel, der große Teil aber ist durch die Presse oder durch Filme auf diesen außergewöhnlichen Sport aufmerksam geworden. 2002, erzählt Nagel, gab es nach dem Film »Enough« einen großen Ansturm von Frauen. Jennifer Lopez verkörpert darin eine Frau, die Krav Maga lernt, um sich vor ihrem gewalttätigen Ehemann zu schützen. Seitdem ist die Nachfrage nicht abgebrochen, denn das Verlangen nach Sicherheit wird in der Gesellschaft immer größer.
Lernen, gefährliche Situationen zu vermeiden oder sich aus ihnen zu befreien, das ist unter anderem das Ziel von Krav Maga Defcon, der Variante, die Pascal Nagel unterrichtet. So hat die 20-jährige Victoria kein mulmiges Gefühl mehr, wenn sie abends allein durch die Straßen geht. Seit fünf Jahren ist die angehende Studentin dabei und setzt die Übung, die der Trainer mit einem Teilnehmer vormacht, gezielt um. Den versuchten Angriff von hinten wehrt sie mit einem Sprung zur Seite und einem Schlag nach unten ab, endet schließlich in einer Drehung mit dem Unterarm gegen den Hals des Gegenübers. Für Anfänger mögen diese Kombinationen noch etwas kompliziert sein, doch die Einzeltechniken sind erstaunlich einfach und vor allem logisch. Die Angst, berührt zu werden und andere zu berühren, sollte man allerdings nicht haben. Und männlichen Teilnehmern wird zum Tiefschutz geraten, denn die Schläge werden nicht nur angedeutet.
Nach fast zwei Stunden Training verrät die Luft im Studio, wie erschöpft die Teilnehmer sind. Doch Kraft und Zeit zum Dehnen sollten noch vorhanden sein, sonst werden die vielen Treppen hinunter ins Erdgeschoss schmerzlich spürbar. »Wer Krav Maga macht, ist ausgeglichener, selbstsicherer und vorsichtiger«, sagt Nagel, der seine Lieblingskampftechnik auch gerne »Bewegungsyoga« nennt. Für ihn symbolisiert die Sportart das junge Israel, denn in kürzester Zeit musste sich das kleine Land verteidigen. Schnell, ganz ohne Schnörkel, aber sehr effektiv.