»Ihr glaubt gar nicht, wie unglücklich ich bin. Ich war doch immer ein rechtschaffener Mann. Und nun habe ich so ein Leben.« Meir Grünbaum schrieb diesen Satz 1942 auf Zettel, Briefumschläge, Pappkartons. 1986 fand Inge G. diese Briefe sowie amtliche Dokumente des jüdischen Ehepaares Meir und Elise Grünbaum aus Wiesbaden bei Renovierungsarbeiten ihrer Wohnung in Frankfurt am Main. Hier hatte das Paar Jahrzehnte vorher gewohnt. Obwohl die jüdische Gemeinde in Wiesbaden Interesse an dem Fund bekundet, will die Finderin die Unterlagen nun an das Stadtarchiv in Frankfurt am Main übergeben.
Seit dem Fund sind 20 Jahre vergangen. Solange ruhte die kostbaren Zeugnisse im Keller des Hauses in der Liebigstraße 27B. Sie sei von der Entdeckung emotional so überwältigt gewesen, dass sie sich nicht sofort mit den Unterlagen auseinandersetzen konnte, sagt die Finderin heute. Dann habe sie aus privaten Gründen keine Zeit mehr dazu gehabt. Als sich im Laufe des Jahres 2007 die »Aktion Stolperstein« in Frankfurt am Main dafür entschied, vor dem Haus in der Frankfurter Liebigstraße, in dem mehrere jüdische Familien gelebt haben, Stolpersteine zur Erinnerung an die Ermordeten verlegen zu lassen, machte Inge G. auf ihren Fund aufmerksam.
Die beiden damals 80-jährigen Meir und Elise Grünbaum hatten ihre privaten Unterlagen kurz vor ihrer Deportation 1942 in den Hohlraum der Wandverkleidung geschoben. Das Paar überlebte den Holocaust nicht. Mit Hilfe der Unterlagen lassen sich die letzten Lebensmonate des Ehepaares auf dramatische Weise nachvollziehen. Meir Grünbaum, einst ein angesehener Bürger in Wiesbaden, stürzte die zunehmende Diskriminierung und der Ausschluss aus der Gesellschaft in tiefste Verzweiflung. Der ehemalige Mitarbeiter der Dresdner Bank lebte völlig zurückgezogen mit seiner Frau Elise in der Mietwohnung. Ohne Radio und mit wenigen Kontakten zur Außenwelt, brachte die Einsamkeit und Verzweiflung Meir Grünbaum dazu, seine Gefühle auf einzelne Zettel zu schreiben. Schließlich konnte das Ehepaar die Miete nicht mehr bezahlen. Ihr kleines Vermögen war von den Nationalsozialisten eingezogen worden – auch darüber geben die Unterlagen Aufschluss.
1941 hatten die Grünbaums Wies-baden verlassen müssen. Elise hatte sich vergeblich darum bemüht im jüdischen Altersheime unterzukommen. Stattdessen mussten sie sich mit der Wohnung in der Frankfurter Liebigstraße abfinden. Die Vermieterin hatte versprochen, sich um die Verpflegung zu kümmern. Doch offensichtlich hielt sie ihr Wort nicht. Im September 1941 schreibt ihr Elise Grünbaum: »Stelle doch wahrlich nie einen Anspruch außer dem einen, berechtigten, dass wir satt werden. (...) Sie haben nicht einmal den bescheidenen Wunsch des 80-jährigen Mannes erfüllt, ihm am Freitagabend ein bisschen warme Suppe zu verabreichen.«
Die jüdischen Nachbarn verabschieden sich in einem kurzen Brief von den Grünbaums. Eine »Reise in den Osten« stand bevor. Man ahnte, was das bedeutete. Meir Grünbaum musste seiner Verzweiflung Luft verschaffen und beschreibt jeden Papierfetzen, der ihm in den Weg kommt: »Ach Leute, ich bin ja so unglücklich.« Seine Schrift wird immer größer, anklagender, verzweifelter. Im August 1942 werden Elise und Meir Grünbaum in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.
Erst 1986, bei Renovierungsarbeiten in der Frankfurter Altbauwohnung, entdeckten die damaligen Bewohner die Unterlagen der Grünbaums. Insgesamt 44 Briefe von Verwandten aus Wiesbaden und Mannheim, ein paar Fotos, die Zettel, Abschriften der Korrespondenz von Elise und amtlichen Schreiben. Noch mal 20 Jahre dauerte es, bis die Finderin die Unterlagen der Stolperstein-Initiative im vergangenen Jahr präsentierte. Trotzdem erhielten die Grünbaums keine Erinnerungstafel in Frankfurt, die Begründung: es handele sich um ein Wiesbadener Paar.
Im Laufe dieses Jahres, so Jürgen Richter vom Vorstand der jüdischen Gemeinde, werden Meir und Elise Grünbaum auf jeden Fall »Stolpersteine« in ihrer Heimatstadt gelegt. »Wir würden es begrüßen, wenn die Unterlagen nach Wiesbaden kommen würden, da sich der Lebensmittelpunkt des Paares auch hier befunden hat. Der Nachlass der Grünbaums wäre im Aktiven Museum Spiegelgasse für deutsch-jüdische Geschichte gut aufgehoben. Auch würde er gut zu dessen Forschung passen«, fügt Richter hinzu. Die behördlichen Schreiben – etwa die Bestätigung über die ordnungsgemäße Abgabe des Schmuckes – beziehen sich größtenteils auf das Leben der Grünbaums in Wiesbaden.
Unter den Briefen befinden sich auch Hinweise auf einen Max Stein – möglicherweise ein Neffe, der sich vergeblich darum bemühte, Meir und Elise Grünbaum nach New York zu holen.
Zeitzeugnisse