von Wladimir Struminski
und Sabine Brandes
Schon Golda Meir wusste ganz genau: Tel Aviv braucht eine S-Bahn. Deshalb beauftragte die Regierungschefin ihren Verkehrsminister Schimon Peres, man schrieb das Jahr 1973, mit der Erarbeitung entsprechender Pläne. Die Realisierung sollte ein Weilchen dauern: Zum Jahreswechsel 2006/07, inzwischen hatten acht Nachfolger Meirs Einzug ins Ministerpräsidentenamt gehalten, gab der Staat Israel die erste der insgesamt sieben geplanten Strecken des Tel Aviver S-Bahn-Netzes in Auftrag. Die sogenannte rote Linie wird 22 Kilometer lang sein, fast zur Hälfte unterirdisch verlaufen, 33 Stationen haben und einen Investitionsaufwand von rund 1,3 Milliarden Euro erfordern. Gebaut und betrieben wird sie, mit finanzieller Hilfe der Regierung, vom internationalen MTS-Konsortium, an dem auch der Siemens-Konzern beteiligt ist.
Die öffentliche Ausschreibung war die größte in der Geschichte des Landes. Siemens wird die Waggons für die Stadtbahn liefern. Ein Ingenieur des Unternehmens ist begeistert: »Wir haben lange gewartet und gebangt, ob wir das Rennen machen werden. Jetzt sind wir alle wirklich glücklich über den Zuschlag. Israel ist ein interessantes Land und Tel Aviv eine tolle Stadt. Wir freuen uns, dass unsere Wagen dort eingesetzt werden.«
Die ersten Züge werden voraussichtlich 2013/14 rollen. Damit wird die Tel Aviver Bahn, jahrzehntelang Gegenstand giftigen Spotts, doch noch Wirklichkeit. Auch in Jerusalem ist eine S-Bahn geplant. An der ersten Strecke wird seit anderthalb Jahren gebuddelt – auch hier von Privatinvestoren, die die Bahn anschließend 28 Jahre lang betreiben dürfen. Bis 2020 soll die Hauptstadt über acht Trassen mit einer Gesamtlänge von 50 Kilometern verfügen. Von dem Großprojekt versprechen sich die Stadtväter wahre Wunder, von der Entlastung des überforderten Straßennetzes über bessere Luftqualität bis hin zu einer wirtschaftlichen Wiederbelebung des dahinsiechenden Stadtkerns.
Der Trend zum Schienenverkehr ergreift aber nicht nur die beiden größten Ballungsräume des Landes. Die staatseigene Eisenbahngesellschaft ist bereits seit einem Jahrzehnt damit beschäftigt, den Fahrgastverkehr kräftig auszubauen. Nicht ohne Erfolg: Von fünf Millionen Passagieren im Jahr 1995 stieg das Fahrgastaufkommen 2005 auf 27 Millionen. Gerade ließ die Gesellschaft überdimensionale Plakate im ganzen Land aufhängen: »Dankeschön an die 30 Millionen Fahrgäste 2006 – auf ein Wiedersehen 2007«. Neue Strecken werden gebaut, bestehende Trassen erweitert. Heute können die Israelis nicht mehr nur die Mittelmeerküste hinauf- und herunterfahren, sondern auch nach Beer Schewa und Dimona im fernen Negev reisen. Eine Schnellverbindung von Tel Aviv nach Jerusalem soll bis Ende des Jahrzehnts fertig sein und die Reisezeit sich von gegenwärtig fast zwei Stunden auf 32 Minuten verkürzen. Die derzeitige Linie bezeichneten selbst die Betreiber als Misserfolg.
Freilich sind die Erfolge nur vor dem Hintergrund des tiefen Dornröschenschlafs möglich, in dem der Schienenverkehr jahrzehntelang gelegen hat. »Die Bahn«, urteilte seinerzeit ein Kommentator, »ist ein ungenutztes Erbstück des britischen Mandats«. Oder auch des Osmanenreiches: Die heutige Strecke Tel Aviv–Jerusalem folgt der 1892 von der türkischen Regierung in Betrieb genommenen. 1904 erhielt Haifa Bahnanschluss an Beit Schean im Jordantal. Jetzt will Israel die längst unterbrochene Verbindung erneuern. Doch der endgültige Beweis, dass die (Bahnhofs-)Uhren in Israel anders ticken: Seinen ersten Satelliten brachte Israel 1988 in die Erdumlaufbahn. Die Eisenbahn wird erst jetzt elektrifiziert.
Doch auch der Aufwand von mindestens 1,2 Milliarden Dollar hält die Eisenbahner nicht vor der Erweiterung ab. Empörte Proteste des Finanzministeriums tat das zuständige Verkehrsressorts im vergangen Jahr lässig ab: »Der Bau geht weiter«, erklärte ein Ministeriumssprecher. Noch 2007 soll der Bahnanschluss Galiläas in Angriff genommen werden. Selbst eine Strecke nach Eilat ist geplant. Nicht minder wichtig sind Kurzstrecken. Sie bieten Berufspendlern eine begehrte Alternative zum Pkw. Insgesamt entfällt etwas mehr als die Hälfte des Fahrgastaufkommens auf Vorortzüge.
David Schawinsky aus Kfar Saba arbeitet in Ramat Gan bei Tel Aviv. Jeden Morgen fährt er mit dem Zug bis zur Schalom-Station im Zentrum. Von hier aus muss sich der Unternehmensberater ein Taxi nehmen. Den Bus findet er zu umständlich, zweimal müsste er umsteigen, um zu seinem Büro zu gelangen. »Eine Stadtbahn in Tel Aviv wäre ein Traum für all jene«, meint er, »die außerhalb wohnen und in der Stadt arbeiten. Eine grandiose Erleichterung«. Nicht nur für Pendler, findet Dan Ariel. Er hat es satt, stundenlang im Stau zu stehen und Abgase einzuatmen. Allerdings findet der Soldat, dass die Bahn rund 20 Jahre zu spät kommt. »Die Luftverschmutzung in der Stadt ist durch das Verkehrschaos so schlimm geworden, dass man manchmal richtige Atemprobleme bekommt.« Dennoch ist er zuversichtlich. »Ich glaube dass es noch nicht zu spät ist für Tel Aviv. Und wenn die Bahn da ist, verkaufe ich mein Auto sofort und steige um.«