von Jutta Sommerbauer
Im »Bet Am« weht ein frischer Wind. Das jüdische Kulturzentrum im Zentrum Sofias ist voller junger Leute. Die Jungen mischen mit – auch in verantwortlichen Positionen. Da ist zum Beispiel der 28-jährige Alek Oskar, Vizepräsident von »Shalom«, der Kultur-Dachorganisation der Juden in Bulgarien. »Sofia ist am attraktivsten für junge Leute«, erklärt er, »viele ziehen aus der Provinz hierher.« Leben am Puls der Zeit, Ausbildung, Arbeit – all das verspricht die Hauptstadt, für jüdische wie nichtjüdische Bulgaren gleichermaßen.
Auch im Fall von Julia und Anna Georgieva. Die Zwillinge sind vor zwei Jahren zum Studium in die Hauptstadt gezogen. Eigentlich stammen die 21-Jährigen aus Vidin, einer Stadt an der Donau im Nordwesten des Landes, vier Autostunden von Sofia entfernt. Fast jeden Tag sind die beiden im Kulturhaus, da sie als Koordinatorinnen des Jugendprogramms arbeiten. Diesmal ist es die Geburtstagsfeier eines Jungen, die sie im Café des Zentrums vorbereitet haben. »Diese Arbeit ist Teil meiner jüdischen Identität«, sagt Anna. »Es ist schön, Wissen und Kultur weiterzugeben und dabei Spaß zu haben.« Die jungen Frauen organisieren Gruppenstunden, Feiern und Sommerlager, Julia macht beim monatlich erscheinenden Jugendmagazin »8« mit. Schon in ihrer Heimatstadt engagierten sich Julia und Anna in der Gemeindearbeit. »Die Alten haben sich am meisten darüber gefreut«, sagt Julia. Sonst sei leider nicht viel passiert.
Die jüdischen Gemeinden Bulgariens haben mit Landflucht zu kämpfen. Sofias Gemeinde hat 3.500 Mitglieder – sie ist mit Abstand die größte des Landes. In Plovdiv, der zweitgrößten Stadt des Landes, leben 250 Juden. Das sind zwar nicht viele, aber ausreichend, um ein Gemeindezentrum und die Synagoge zu erhalten.
In den kleinen Landgemeinden ist die Situation dagegen wenig hoffnungsvoll. So hat »Shalom« zwar 19 regionale Zweigstellen – doch die bestehen oft nur aus ein paar Dutzend Personen. In der Stadt Lom sind es drei Familien, in Blagoevgrad, 100 Kilometer südlich von Sofia, drei Personen. »Oft fehlt ihnen die nötige Anzahl, um ein Leben als Gemeinschaft führen zu können«, sagt Emil Kalo, der Präsident von »Shalom«. »Die Leute treffen sich nur zu den Feiertagen.«
Auch die Unterhaltung ihrer Immobilien stellt die Gemeinden vor ein großes Problem. Denn häufig fehlen schlichtweg die Nutzer. In Burgas vermietet die jüdische Gemeinde deshalb die Synagoge an die städtische Galerie.
In anderen Städten wie etwa Kardzhali, Goce Delchev, Provadia oder Karnobat gibt es heute überhaupt keine jüdischen Einwohner mehr. Dort sei die Frage der Erhaltung von Grundstücken noch komplizierter, erklärt Emil Kalo.
Ein Beispiel ist die 70.000-Einwohner-Stadt Vidin. Im Jahr 1940 gab es hier noch 1.500 Gemeindemitglieder, nach der Gründung des Staates Israel wanderten die meisten aus. Übrig blieb nur noch eine Handvoll. Die Gemeinde-Immobilien sind in einem beklagenswerten Zustand.
Solomon Mosche Zhak, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Vidin, lacht bitter, wenn man ihn nach der Zukunft seiner Gemeinde fragt. »Ihr Schicksal liegt vermutlich im langsamen und endgültigen Aussterben. Der Großteil unserer Gemeindemitglieder sind sehr alte Leute.« Nachwuchs gäbe es keinen. Bei Veranstaltungen komme man auf zehn bis 15 Leute, erzählt Zhak.
Die Synagoge aus dem Jahr 1888, das frühere Prunkstück der Gemeinde steht am Donauufer: »Weißer Schwan« hat man sie früher genannt. Heute bietet sie einen traurigen Anblick. Die bunten Glasmosaike sind ausgeschlagen, der Verputz bröckelt ab, der Stein verwittert, das Gebäude steht ohne Dach. Von Gestrüpp umwachsen, ist das Gelände ein Treffpunkt von Jugendlichen und Obdachlosen, das Areal dient als Müllabladeplatz.
Mit der Emigration der Vidiner Juden setzte auch der Verfall der Synagoge ein. Schon in den 50er Jahren wurde sie als Lagerplatz verwendet. 1962 ging der Tempel – wie alle jüdischen Immobilien landesweit – in staatlichen Besitz über. Die Stadt Vidin wurde zum neuen Eigentümer. In den 70er Jahren planten die Kommunisten, die Synagoge in einen Konzertsaal umzuwandeln. Man zog Betonstiegen ein und wollte Toiletten einbauen. Doch aus den Plänen wurde nichts – und dann kam die Wende.
Anfang der 90er Jahre wurde die Synagoge der Vidiner Gemeinde zurückgegeben, ebenso wie die frühere jüdische Schule und ein Friedhof. Die Frage der Renovierung und Instandhaltung blieb indes ungelöst. Museum, Konzertsaal, Galerie, Einkaufszentrum – »es gab schon ganz viele verschiedene Ideen. Man kann das Gebäude für viele Dinge nutzen, wenn man nur das Geld findet«, klagt Zhak.
In seinem Sofioter Büro winkt Emil Kalo ab. Für das Großprojekt einer Tempel-Renovierung sieht der Präsident keine Chance. »Dafür kann man keine Sponsoren finden«, sagt er. Die Renovierung koste zwei Millionen Euro. »Keine jüdische Organisation zahlt das bei nur 20 Juden.«
»Wir sind die verlorene Generation«, sagt der 57-Jährige über seine Altergruppe. Als er aufwuchs, erinnert er sich, fand jüdische Erziehung nur in den eigenen vier Wänden statt. »Wir warten mit Ungeduld auf die Jungen.« In Sofia besteht kein Mangel an Nachfolgern. Doch die Tage der bulgarischen Landgemeinden scheinen gezählt.