von Rabbinerin Gesa Ederberg
In Paraschat »Zaw« (deutsch: »Befiehl!«) lesen wir, wie die Priester Tieropfer darbringen sollen. Dies ist eine Fortsetzung der langen Liste von verschiedenen Opfern aus dem Toraabschnitt der vergangenen Woche. Der Tempel in Jerusalem ist zerstört, und niemand wünscht wirklich, dass es nochmals Tieropfer geben soll in der messianischen Zeit, wenn Gott Frieden in der Welt schafft und alle Völker zum Tempel auf dem Zion ziehen. Schon der Talmud hat festgestellt, dass »in unseren Tagen das Lernen der Tora das Darbringen von Tieropfern ersetzt« (Menachot 110a). Und Maimonides beschreibt die Tieropfer überhaupt als eine Art Zugeständnis Gottes an die Bedürfnisse der Menschen nach greifbaren Ritualen.
»Zaw – Befiehl!« Immer wieder begegnen uns in der Tora die Worte Befehl, Gebot, Auftrag, Pflicht – Begriffe, die uns heute zutiefst suspekt sind. Wir leben in einer Zeit, die das Misstrauen vor Autorität zur ersten Bürgerpflicht gemacht hat, die für uns in Europa nicht nur ideologisch, sondern auch materiell eine größere Freiheit des Einzelnen hervorgebracht hat, als es sie je zuvor gegeben hat. Die Mündigkeit der Einzelnen, das Recht, jeden Befehl und jedes Gesetz zu hinterfragen, ist eine wertvolle Errungenschaft unserer Zeit. Gerade auch wir Juden haben von dieser Emanzipation profitiert – das Recht auf Selbstbestimmung war der erste notwendige Schritt zu einer gesellschaftlichen Gleichberechtigung. Die jüdische Tradition allerdings betont, wie auch die meisten anderen traditionellen Formen des Zusammenlebens, die Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft.
Nun könnte man sich schnell darauf einigen, dass Rücksicht auf andere zur Freiheit dazugehört, dass in den berühmten Worten von Rosa Luxemburg Freiheit »immer die Freiheit des Anderen« bedeutet. Man könnte sich ebenfalls darauf besinnen, dass jede Gesellschaft, jede Gruppe von Menschen sich Regeln setzt, die teils auch autonom und unbewusst von unten entstehen.
Jede Gesellschaft hat ihre Verhaltensregeln. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Balance von Pflichten und Freiräumen. Pflichten finden sich auf gesellschaftlicher wie auch auf privater Ebene, Freiräume im öffentlichen Raum werden meist als »Freiheit von«, im privaten eher als »Frei-Zeit zur eigenen Gestaltung« begriffen.
Eine tiefe Veränderung in der Wahrnehmung von Religion – und das betrifft heute auch andere Formen gesellschaftlichen Engagements – liegt darin, dass sie nicht mehr dem Bereich der Pflicht, sondern dem der Freiwilligkeit und Freizeit zugeordnet werden. Die Teilnahme am Gemeindeleben (und an religiöser Bildung) gehört heute zu den Dingen, die wie andere Freizeitaktivitäten (Singen, Fußballspielen, Tangotanzen ...) außerhalb des Bereiches der Pflichten liegt. Selbstverständlich ist es positiv, dass niemand zum Besuch eines Gottesdienstes gezwungen werden kann oder dass es eben keine »freiwilligen« Einsätze der Pionierjugend mehr gibt. Aber es hat weitreichende Folgen, wenn Religion unter die Regeln der Freizeitgesellschaft fällt. Denn die entscheidende Regel der Freizeitgesellschaft lautet: Meine Teilnahme ist unverbindlich, ich nehme so lange teil, wie es mir Spaß macht und ich persönlich etwas davon habe.
Es ist kein Zufall, dass die Tora mit gleichen Worten und mit gleicher Begründung bestimmte Handlungen gegenüber Gott und den Mächtigen fordert, wie sie es auch gegenüber den Schwachen in der Gesellschaft tut. Pflichten existieren nicht nur dort, Regeln sind nicht nur da einzuhalten, wo Zwang sie durchsetzt, sei es das Finanzamt oder die rote Ampel. Pflichten gelten nach der Tora gleichermaßen da, wo die eigene Macht es möglich machen würde, den Schwachen zu ignorieren und stattdessen persönliche Interessen zu befriedigen.
Ein Zentrum der jüdischen Gemeinschaft ist der Gottesdienst, er ist der Ort und die Zeit, wo man zusammenkommt. Viele Elemente der jüdischen Tradition betreffen andere Orte und andere Zeiten, die Küche mit ihren Speiseregeln, die Familie in ihren unterschiedlichen Formen, aber im gemeinsamen Gebet kommt die Gemeinschaft zusammen, die sonst die jüdische Tradition als Einzelne oder als Kleingruppe lebt. Deshalb ist der Gottesdienst der Ort, wo Platz für alle, die Starken wie die Schwachen sein muss. Die von der Tora gebotene Fürsorge für die Schwachen, die Gemeinschaft aller Teile des Volkes Israel ist eben nicht nur Aufgabe der Sozialabteilung, sondern gehört ins Zentrum der Gemeinde.
Wer im Gottesdienst einzig und allein nach seinem persönlichen spirituellen, ästhetischen oder intellektuellen Erlebnis sucht, verfehlt damit eine wichtige Dimension von Gemeinschaft. Tragfähig wird der Gottesdienst dadurch, dass er nicht jedes Mal neu erfunden wird, sondern in der Struktur, im Text und ein Stück weit auch in der Melodie, verlässlich ist.
Selbstverständlich sollen und müssen Gottesdienste »attraktiv« gestaltet werden, zugänglich und auch verständlich sein. Neue Gesichter müssen willkommen geheißen werden, und ein »Einstieg« muss möglich sein. Doch seinen Sinn erfüllt der Gottesdienst erst dann, wenn die Balance zwischen den Wünschen und Bedürfnissen der Einzelnen und dem Gefühl der Verpflichtung der Gemeinde als Ganzes gelingt.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.